Hunderte Verletzte

Aufstand verschärft – Protest-“Tsunami” in Bosnien

Ausland
07.02.2014 22:49
Bosnien-Herzegowina wird von einer landesweiten Protestwelle erschüttert. In mehr als 30 Städten wird gegen Armut und Arbeitslosigkeit protestiert. In Tuzla, Zenica und der Hauptstadt Sarajevo wurden am Freitag die Gebäude der Regionalregierungen und sogar der Sitz des Staatspräsidenten gestürmt. In Tuzla und Zenica steckte der Mob die Gebäude der Kantonalregierungen in Brand. Mindestens 150 Menschen wurden alleine am Freitag nach Zusammenstößen mit der Polizei verletzt.

In Sarajevo gab es mindestens 80 Verletzte, in Zenica 50. Der bosnische Innenminister Fahrudin Radoncic bezeichnete die Protestwelle als "Tsunami". Radoncic kritisierte die Regierung im größeren Landesteil, der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, als "sehr ineffizient". Schuld an der Lage sei auch die Staatsanwaltschaft, die bei der Bekämpfung der Korruption versagte.

Innenminister warnte seit Monaten vor Gewalt
Er habe schon vor Monaten davor gewarnt, dass es zum Tsunami plündernder Bürger kommen würde, sagte Radoncic der Tageszeitung "Dnevni avaz". Die Regierungen hätten "nicht einmal ein Mindestmaß an sozialem Gefühl an den Tag gelegt".

Die Protestbewegung hatte am Mittwoch in der nordbosnischen Stadt Tuzla begonnen. Am Donnerstagabend wurden dort 130 Menschen, mehrheitlich Polizisten, bei Protesten in der Innenstadt verletzt. Am Freitag gingen Tausende Menschen bereits den dritten Tag in Folge auf die Straßen, um gegen die Schließung von vier Betrieben zu protestieren. Durch die Pleiten würden 10.000 Menschen ihre Jobs verlieren.

Rücktrittsforderungen erfolgreich: Regionale Premiers gehen
Ein Gesprächsangebot des regionalen Regierungschefs Sead Causevic schlugen die Demonstranten aus. Sie verlangten vielmehr seinen Rücktritt. Einem Zeitungsbericht zufolge wurde Causevic auch vom Regierungschef der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, Nermin Niksic, zur Demission aufgefordert.

Causevic lehnte dies am Donnerstagabend zunächst ab. Am Freitag reichte er schließlich doch seinen Rücktritt ein. Zuvor hatten einige der mehr als 6.000 Demonstranten das Gebäude der Kantonalregierung in Tuzla in Brand gesetzt. Auch in Zenica, wo am Nachmittag ebenfalls der Amtssitz der lokalen Regierung in Brand gesteckt wurde, kam es zu Rücktritten: Laut Medienberichten gaben Premier Munib Husejnagic und alle zehn Minister ihre Ämter auf.

"Nehmt die Aasgeier fest!"
Die zunächst lokalen Proteste weiteten sich landesweit auf mindestens 33 Städte aus. "Nehmt die Aasgeier fest!", riefen Demonstranten in Sarajevo. Am Freitag kam es erstmals auch zu einem Protest in Banja Luka, der Hauptstadt der Serbischen Republik. "Es lohnt sich nicht, zu schweigen, es wird nur noch schlimmer werden", war dort auf Transparenten zu lesen. "Hast du vielleicht Geld?", stand auf einem Spruchband an einer Brücke in Visoko.

Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es auch in der Stadt Bihac. In Brcko nahmen die Demonstranten den Bürgermeister, der die Situation zu beruhigen versuchte, gefangen.

Inzko: Stadtarchiv niedergebrannt, Schaden "immens"
Am späten Freitagabend sagte der internationale Bosnien-Beauftragte, der Österreicher Valentin Inzko, in der "ZiB 2", dass weiterhin einige Brände wüteten. Einer davon habe das gesamte Stadtarchiv in Sarajevo in Schutt und Asche gelegt. Der Schaden an dem Archiv, das drei Kriege überstanden hatte, sei "immens". Insgesamt habe sich die Lage in den vergangenen Stunden jedoch ein wenig beruhigt. Ausländer seien bei den Aufständen nicht zu Schaden gekommen, so Inzko.

Die Demonstranten protestieren gegen Arbeitslosigkeit, Armut und die mangelnden Zukunftsperspektiven in dem früheren Bürgerkriegsland. Offiziellen Statistiken zufolge sind in Bosnien-Herzegowina 45 Prozent ohne Job. Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des blutigen Konflikts hat die Wirtschaft der früheren jugoslawischen Teilrepublik noch immer nicht Tritt gefasst.

Nationalistische Politik der drei Ethnien lähmt das Land
Ein Hauptgrund dafür ist die politische Lähmung des Landes. Die Politik wird weiterhin von nationalistischen Politikern dominiert, die sich uneins über die Zukunft des Landes sind. Während die Serben nach Unabhängigkeit streben, wollen die Bosniaken als größte und verstreut über das ganze Land lebende Volksgruppe einen Zentralstaat. Die Kroaten, die immer wieder mit dem Anschluss an ihr "Mutterland" liebäugeln, wünschen sich eine Aufwertung. Wegen des Dauerstreits ist die EU-Annäherung Bosnien-Herzegowinas ins Stocken geraten.

Schwer getroffen hat die bosnische Wirtschaft auch der EU-Beitritt Kroatiens im Vorjahr. Das Nachbarland ist durch seine EU-Mitgliedschaft aus der Freihandelszone mit Bosnien-Herzegowina ausgeschieden, was zur Absiedlung von Betrieben und geringeren Exporterlösen führt.

Staatspräsidium selbstkritisch: "Wir tragen die ganze Schuld"
Die hohe bosnische Politik übte sich am Abend erstmals in Selbstkritik. "Wir tragen die ganze Schuld", sagte der Vorsitzende des bosnischen Staatspräsidiums, Zeljko Komsic. Die Behörden hätten bereits vor drei Tagen mit den Demonstranten in Tuzla reden müssen. Er wisse nicht, ob die Staatsinstitutionen überhaupt in der Lage seien, zu funktionieren.

"Aus der Anarchie kann nichts Gutes hervorgehen", sagte Komsic im TV-Sender der Bosniakisch-Kroatischen Föderation. Einen Einsatz von Streitkräften gegen die Unruhestifter schloss Komsic allerdings dezidiert aus: "Wie könnte man die Truppen gegen eigenes Volk einsetzen?"

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