Schuldfrage geklärt?

Tote und Täter: „Spiegel“ öffnet „Die Akte Ischgl“

Tirol
27.06.2020 13:25

Vom Tiroler Skiort Ischgl dürfte sich das neuartige Coronavirus in weite Teile Europas verbreitet haben - das misslungene Krisenmanagement löste eine brisante Debatte über mögliches Politikversagen aus. Das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hat der Causa nun eine eigene Coverstory gewidmet und begibt sich dabei auf Spurensuche in der Schuldfrage.

Mit „Die Toten, die Täter, die Ermittlungen“ - eröffnet das Magazin seine Recherchen zu den Hintergründen, wie sich das Virus von Lokalen in Tirol in viele Länder Europas verteilt hat. Die 1600-Seelen-Gemeinde geriet dabei als „Ground Zero“ der Pandemie in Verruf. Der Skiort ist besonders bei Urlaubern aus Deutschland, den Niederlanden und den Skandinaviern beliebt. Mehr als 11.000 Infektionen sollen auf Ischgl zurückzuführen sein.

Inzwischen hat die Universität Innsbruck festgestellt, dass rund 42 Prozent der Einwohner bereits Antikörper in sich tragen. „Der Spiegel“ hat sich nun der Frage angenommen, wer die Verantwortung für die Verbreitung habe und welche Fehler gemacht wurden. Die Spurensuche führte die Journalisten dabei nach Ischgl selbst, aber auch nach Innsbruck und Wien.

Über 6000 Betroffene wollen klagen
Eine wesentliche Informationsquelle der Autoren ist dabei der Chef des Verbraucherschutzvereins Peter Kolba. Der ehemalige Nationalratsabgeordnete gilt als Experte für Sammelklagen und sammelt Geschichten von Menschen aus aller Welt, die nach Ischgl gereist waren und krank zurückkehrten. Bereits 6151 Männer und Frauen aus fünf Kontinenten haben sich bereits bei dem Juristen registrieren lassen. Nun soll eine millionenschwere Schadenersatzklage eingebracht werden. Besonders die Après-Ski-Lokale „Kitzloch“, „Nikis Stadl“ und die „Trofana Alm“ werden von den Betroffenen als Infektionsherd benannt.

Warnungen ignoriert?
Für die Bekämpfung meldepflichtiger Erkrankungen ist grundsätzlich die österreichische Bundesregierung zuständig. „Der Spiegel“ ruft dabei Paragraf 51 des Epidemiegesetzes in Erinnerung - demnach hätte das Gesundheitsministerium bereits nach den ersten Anzeichen von Corona-Erkrankten dafür sorgen müssen, dass Hotels, Liftanlagen und Lokale geschlossen werden müssen, so die Autoren.

Ganz besonders streichen sie hervor, dass eine erste Warnung aus Island über einen Infizierten bereits am 3. März eingetroffen wäre, einen Tag darauf wurde gar von offizieller Seite über das europäische Frühwarnsystem EWRS Alarm geschlagen. Bis zur Schließung der Lokale vergingen jedoch weitere sechs, bis zum Ende des Liftbetriebs sogar neun Tage.

Kurz: Regierung nur „Postkasten zwischen Island und Tirol“
Die Autoren konfrontierten auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) mit den Ungereimtheiten. Dieser weise aber die Schuld von sich - die Regierung in Wien sei „nur ein Postkasten zwischen Island und Tirol“ gewesen. Ähnlich sieht das auch der oberste Seuchenexperte im Gesundheitsministerium, Bernhard Benka. Schuld hätten demnach die Behörden in der Tiroler Provinz. Betroffene erzählten, dass sich bereits am 10. März im Ort herumgesprochen hätte, dass das Virus umgehe. Während die Bezirkshauptmannschaft am Nachmittag anordnete, die Lokale „unverzüglich“ zu schließen, hielt etwa die „Trofana Alm“ dennoch offen - die örtliche Polizei hätte, trotz Warnungen, nicht eingegriffen.

Wenig Verständnis für Schließungen
Der Betreiber des Lokals ist nicht nur Obmann des Tourismusverbandes, sondern auch der Sohn des wohl erfolgreichsten Unternehmers im Ort, Johann von Tannen. Dieser sieht die Pandemie vor allem als Bilanzposten. Durch das vorgezogene Saisonende seien dem Unternehmen sechs Millionen Euro Umsatz entgangen. Einzelschicksale infizierter Menschen beschäftigen ihn dabei weniger, als dunkle Mächte hinter der Pandemie: „Wer weiß, ob das nicht alles manipuliert ist“, wird von Tannen zitiert.

Niemand will schuld sein
Auf die Frage, ob man durch beherzteres Eingreifen nicht viele Menschenleben hätte retten könnten, riegelt der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) ab. Er habe sich nichts vorzuwerfen, erklärte der Chef der Einsatzleitung in Tirol. Es sei nun Aufgabe der Staatsanwaltschaft und einer unabhängigen Untersuchungskommission, die genauen Vorgänge aufzuklären. Er bestreitet aber nicht, dass Liftbetreiber-Lobbyisten aus der Kanzlerpartei lange Widerstand gegen das vorzeitige Saisonende geleistet haben.

Kolba sieht letzte Verantwortung bei Gesundheitsministerium
„Wir werden medial in ein ungünstiges Eck gestellt“, resümiert Ischgls Bürgermeister Werner Kurz (ÖVP). Im Ort selbst kommt auch Kritik an der deutschen Regierung auf. So meint etwa ein Hotelier, dass „ein Wort von Heiko Maas“ (Anm. der Außenminister) gereicht hätte und sämtliche Lokale hätten geschlossen.

Der Verbraucherschützer Kolba fordert nun Einsicht in die Protokolle aller Krisenstäbe. „Vermutlich wird jeder versuchen, die Schuld von sich auf andere abzuwälzen“, erklärt er. Zur strafrechtlichen Verfolgung brauche es Absicht, Vorsatz oder Fahrlässigkeit - Kolba ortet bei seinen Ermittlungen „Fehler, die in der Hierarchie hinunter bis zur Gemeinde gemacht wurden“. Diese würde letztlich auf das Gesundheitsministerium zurückfallen.

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