Interview zu Memoiren

Obama: „Es geht darum, den Menschen zuzuhören“

Ausland
13.12.2020 06:02

Der 44. US-Präsident, Barack Obama, hat nun den ersten Teil seiner Memoiren veröffentlicht. Im Gespräch erklärt er seine Beweggründe. Das Interview wurde vom Pengiun-Verlag geführt und der „Krone“ zur Verfügung gestellt.

Auf den ersten Seiten von „Ein verheißenes Land“ erörtern Sie Ihr komplexes Bild von Amerika, aber auch Ihren festen Glauben an sein Versprechen. Was bedeutet „ein verheißenes Land“ für Sie? Und wie sehen Sie diese Verheißung heute, nach Ihrer Präsidentschaft?
Zum einen möchte ich meinen grundlegenden Glauben an Amerika abbilden - trotz der Herausforderungen, vor denen wir standen, trotz der tragischen Geschichte von Sklaverei und Jim Crow, von Krieg und Diskriminierung, trotz all der Gelegenheiten, in denen wir vielleicht versagt haben. Der Titel bezieht sich natürlich auf die Bibel, auf die Tatsache, dass Moses das verheißene Land nicht erreicht. Wir ziehen vierzig Jahre lang durch die Wüste. Außerdem ist dieser Verweis, der sich auch auf die Rede von Martin Luther King bezieht, für die afroamerikanische Gemeinschaft bedeutungsvoll. Selbst wenn wir zu Lebzeiten nicht dort ankommen, selbst wenn wir unterwegs wanken oder abweichen, habe ich das Vertrauen, dass wir es letztlich erreichen werden und einen vollkommeneren Bund erschaffen können - keinen vollkommenen, aber einen vollkommeneren. Dieses Gefühl wollte ich vermitteln. Ein Teil der Reise, die ich beschreibe, ist die eines jungen Mannes, der beschließt, an diesem Prozess teilhaben zu wollen, dann Präsident der Vereinigten Staaten wird, sich ein paar Kratzer und Dellen holt und ein bisschen herumgeschubst wird, aber immer noch an Möglichkeiten glaubt, als er auf der anderen Seite herauskommt.

Sie vermitteln der Leserschaft, wie es sich wirklich anfühlt, Präsident der Vereinigten Staaten zu sein, auch die tägliche Mischung aus Zufriedenheit, Enttäuschung, Reibereien und den kleinen Triumphen, die damit einhergehen. Wie hat sich ihr Begriff des „Jobs“, Präsident zu sein, verändert?
Dazu kann man einiges sagen. Zunächst einmal ist es ein außerordentliches Privileg, den amerikanischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen in dieser Funktion zu dienen. Wir begreifen das zwar alle auf intellektueller Ebene, aber es ist eben eine völlig andere Erfahrung, dieses Gewicht jeden Tag zu spüren. Eine Metapher, die für das Präsidentenamt gerne genutzt wird, ist die eines Staffelläufers. In meinen Augen habe ich den Staffelstab von einer ganzen Reihe Menschen übernommen, die vor mir da waren, manche von ihnen waren Helden, andere handelten nicht ganz so optimal. Aber wo auch immer man sich in dem Rennen befand, wenn man sich anstrengte, sein Bestes gab, den Stab dann erfolgreich übergeben konnte und das Land oder die Welt ein bisschen besser dastand als zu Anfang, dann konnte man stolz auf sich und seine Rolle sein. Und ich finde, das haben wir geschafft. Gleichzeitig lernt man, dass das Präsidentenamt trotz der ganzen Macht und Pracht auch nur ein Job ist und unsere Bundesregierung ein menschliches Unternehmen wie jedes andere. Dort entstehen dieselben Dynamiken und Spannungen wie an vielen anderen Arbeitsplätzen, allerdings ist das Umfeld doch ziemlich anders. Man muss natürlich lernen, mit der einzigartigen Isolation des Präsidentenamts zu leben, sowohl aus Sicherheitsgründen als auch wegen der Natur des Amts - plötzlich kann man nicht mehr spazieren gehen, in einem Park sitzen und ein Sandwich essen oder ein Konzert besuchen. Man schätzt den Wert der Anonymität nicht, bis man sie verloren hat. Es ist einfach außergewöhnlich. Gleichwohl bekommt ein Präsident oder jemand, der für dieses Amt kandidiert, ein Geschenk: Man sieht einen größeren Querschnitt des Landes, trifft mehr Menschen und bekommt ein besseres Gespür für die Vielfältigkeit unseres Volks und für unsere Gemeinsamkeiten. Und all diese Stimmen werden ein Teil von einem selbst, wenn man zuhört. Das ist ein sehr wertvolles Geschenk und mit die Grundlage für den Optimismus, den ich immer noch empfinde.

Sie legten Wert darauf, am Ende jedes Tages Briefe zu lesen, die Ihnen ganz normale Menschen geschickt hatten. Warum war Ihnen das so wichtig?
Während meiner Amtszeit kamen jeden Tag Tausende von Briefen und E-Mails ins Weiße Haus. Ich wollte täglich zehn dieser Briefe lesen, daher bat ich darum, mir jeden Abend ein repräsentatives Päckchen zusammenzustellen. Auf diese Weise wurde ich daran erinnert, dass es bei dem, was ich tat, nicht um mich ging. Es ging nicht um die Washingtoner Kalküle. Es ging nicht um die politische Zähltafel. Es ging um die Menschen, die dort draußen ihr Leben lebten, die entweder Hilfe suchten oder sich darüber ärgerten, wie ich etwas verpfuschte. Menschen, die es verdienten, gehört zu werden. Als ich damit anfing, verstand ich vielleicht noch nicht, wie bedeutend das letztlich für mich werden sollte. Aber es half mir, bei den wichtigsten Fragen geerdet zu bleiben. Dieser Prozess hatte meiner Meinung nach mit einer fundamentaleren Vision dessen zu tun, was wir im Wahlkampf und während meiner Amtszeit erreichen wollten. Es geht darum, den Menschen zuzuhören. Es geht darum, ihnen Fragen über ihr Leben zu stellen, darüber, was ihnen wichtig ist. Wie kamen sie zu ihren Überzeugungen? Was wollen sie ihren Kindern weitergeben? Dabei habe ich gelernt, wenn man genau genug zuhört, haben alle Menschen eine heilige Geschichte. Eine logische Geschichte darüber, wer sie sind und welchen Platz sie in der Welt haben. Und sie sind bereit, sie zu erzählen, wenn sie das Gefühl haben, es sei einem wirklich wichtig. Am Ende ist das der Klebstoff, mit dem Beziehungen gebildet werden, mit dem Vertrauen gebildet wird, mit dem Gemeinschaften gebildet werden. Und letztlich - zumindest war das meine Theorie - ist das der Klebstoff, der Demokratien zusammenhält.

In den ersten Wochen Ihrer Präsidentschaft mussten Sie zahlreiche Krisen bewältigen, die sofortige Aufmerksamkeit erforderten. Auch außenpolitische Herausforderungen waren darunter: die Kriege im Irak und in Afghanistan, die Bedrohungen durch Terrorismus und den Klimawandel, die internationalen Auswirkungen der Finanzkrise. Was waren Ihre Leitprinzipien im Umgang mit internationalen Belangen? Wie begreifen Sie Amerikas Rolle auf der Weltbühne?
Zu Beginn meiner Amtszeit war klar, dass wir nicht alleine handeln konnten, wenn wir uns den größten Herausforderungen stellen wollten - von der globalen Finanzkrise bis zu den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels. In einer Welt, die während der acht Jahre meiner Präsidentschaft nur noch vernetzter wurde, würden wir eine amerikanische Führung anbieten müssen, um andere zu mobilisieren, unsere gemeinsamen Probleme zu lösen. Doch genau die Kräfte der globalen Verflechtung, die uns voneinander abhängig machen, fördern auch tiefe Spannungslinien in der bestehenden internationalen Ordnung zutage. Auf der ganzen Welt haben wir es mit einer Pandemie zu tun, die neben längst bestehenden Herausforderungen existiert - Flüchtlingskrisen, wirtschaftlichen Engpässen, Stammesdenken und mehr. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt in vielerlei Hinsicht wohlhabender als jemals zuvor geworden, dennoch sind unsere Gesellschaften voller Unsicherheit und Sorge. Trotz enormer Fortschritte verlieren die Menschen das Vertrauen in Institutionen, das Regieren wird schwieriger, und Spannungen zwischen Nationen dringen schneller an die Oberfläche. Wir stehen also vor einer Entscheidung. Wir können uns mit einem besseren Modell von Kooperation und Integration vorwärtsbewegen. Oder wir können uns in eine gespaltene und sich letztlich im Konflikt befindliche Welt zurückziehen, hinter uralte Grenzen von Nationen, Volksgruppen, Hautfarben und Religionen. Die Antwort kann meiner Meinung nach nicht einfach die Ablehnung globaler Vernetzung sein. Stattdessen müssen wir gemeinsam daran arbeiten, dass der Nutzen einer solchen Vernetzung breit gestreut wird und die Beeinträchtigungen - ökonomischer, politischer und kultureller Natur -, die durch sie entstehen, gezielt angegangen werden. Und ich glaube auch, dass die Vereinigten Staaten, trotz unserer eigenen Herausforderungen, eine moralische und praktische Verpflichtung haben, eine internationale Ordnung voranzutreiben, die auf allgemeingültigen Werten und klar festgelegten Regeln und Normen basiert. Unsere Macht kommt nicht nur aus unserer militärischen und ökonomischen Stärke - sie kommt von der Geschichte, die wir repräsentieren. Und so wie wir konsequent daran gearbeitet haben, unseren Bund zu Hause zu vervollkommnen, müssten wir uns konstant bemühen, unsere Anstrengungen auf der ganzen Welt zu steigern.

Als erster Schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten haben Sie viele Amerikanerinnen und Amerikaner mit einem Gefühl von Stolz und Fortschritt erfüllt - aber Sie schreiben, allein Ihre Anwesenheit im Weißen Haus hätte das Gefühl hervorgerufen, „die natürliche Ordnung der Dinge löse sich auf“. Was betrachten Sie als Ihr Vermächtnis im Hinblick auf das Thema Hautfarbe in Amerika?
Zunächst einmal habe ich nie geglaubt, dass sich das Fieber des Rassismus durch meine Wahl legen würde. Das war mir ziemlich klar. Ich war nie der Meinung, wir leben in einer postrassistischen Ära. Aber während meiner Präsidentschaft gab es wohl so eine Art Gegenreaktion von manchen Menschen, die das Gefühl hatten, ich wäre das Symbol dafür, dass sie oder ihre Gruppe womöglich an Status verlören - nicht weil ich etwas Bestimmtes getan hatte, sondern allein wegen der Tatsache, dass ich nicht aussah wie all die anderen Präsidenten vor mir. Allein meine Anwesenheit beunruhigte die Menschen, in manchen Fällen explizit und in manchen unterbewusst, und dann gab es noch die Leute, die diese Ängste ausnutzen konnten. Man muss nur an die Wucht von Palins Kundgebungen im Gegensatz zu den Veranstaltungen von McCain zurückdenken - vergleichen Sie die Aufregung an der republikanischen Basis. Ich glaube, da zeichnet sich schon ab, in welchem Maß Themen wie Identitätspolitik, Nativismus, Verschwörungen an Zugkraft gewannen. Und von dort aus können Sie eine Linie ziehen zu der Birther-Verschwörung, die Donald Trump verbreitet hat, bis hin zum Gewinn der Wahl durch Trump selbst. Dennoch, während meiner Amtszeit ist eine ganze Generation Jugendlicher aufgewachsen, die es nicht für sonderbar oder außergewöhnlich hielt, dass der Mensch, der das höchste Staatsamt bekleidete, schwarz war. Ich glaube, die Fragen, die schon sehr lange im Zentrum der Diskussion in diesem Land stehen, nicht nur rund um die Hautfarbe, sondern auch um Klassenzugehörigkeit, um Genderfragen oder das Gefühl, dass manche Leute amerikanischer sind als andere, dass sie mehr Anrecht auf die Bürgerrechte haben - wen fassen wir unter dem Begriff „Wir, das Volk“ zusammen? -, die waren alle schon immer umstritten. Und im Laufe der letzten vier Jahre haben wir gesehen, dass diese Themen immer noch eine große Kraft besitzen, selbst wenn man keinen Schwarzen Präsidenten hat. Aber allgemein gesprochen, wenn Sie mit meinen Kindern und ihrer Generation reden, stellen Sie fest, dass ihre Meinungen im Großen und Ganzen instinktiv offener sind - und nicht nur in Fragen der Hautfarbe, sondern auch in Genderfragen, in Fragen der sexuellen Orientierung. Deshalb tendiere ich nicht dazu zu verzweifeln. Ich nehme es dennoch ernst, denn die Geschichte bewegt sich nicht in einer geraden Linie. Einstellungen können sich rückwärts wie auch vorwärts richten. Wir alle müssen darauf achten, dass wir so angestrengt wie möglich daran arbeiten, die besseren Engel unserer Natur herbeizurufen und einigen Dingen ein Ende zu setzen, die in der amerikanischen Kultur so eine zerstörerische Wirkung hatten. Amerika als Experiment ist wirklich wichtig für die Welt, nicht wegen der Zufälle der Geschichte, die uns zur mächtigsten Nation der Erde gemacht haben, sondern weil Amerika das erste echte Experiment darin ist, eine große, multiethnische, multikulturelle Demokratie aufzubauen. Und wir wissen noch nicht, ob das Bestand hat. Das ist die Arbeit jeder Generation.

Sie erzählen sehr freimütig von den Herausforderungen als Ehemann und Vater während Ihrer Amtszeit. Wie ist es Ihnen gelungen, diese unterschiedlichen Rollen in Einklang zu bringen und die Folgen zu bewältigen, die Ihre Präsidentschaft auf Ihre Familie hatte?
Von Beginn an war die Kandidatur um die Präsidentschaft eine Wette, eine Wette darüber, was für ein Land wir sind. Und ich bat Michelle, Sasha und Malia, diese Wette mit mir einzugehen, obwohl sie von der Vorstellung, ein Leben in der Politik zu führen, nicht gerade begeistert waren. Wir waren gesegnet mit einer guten Gesundheit, einem starken Kreis aus Freunden und Familie, einer tiefen Liebe zueinander und dem gemeinsamen Glauben, dass wir etwas anzubieten hatten. Also nahmen wir die Wette an. Wenn ich ehrlich bin, passierte der schwierigste Teil der Kindererziehung in der Zeit, bevor wir ins Weiße Haus kamen - und ich war es nicht, der sich darum kümmerte. Es war Michelle, während ich im Wahlkampf von einem Staat zum nächsten reiste. Man kann die Last, die ich meiner Familie während der zwei Jahre meiner Kandidatur aufbürdete, kaum zu groß einschätzen - ich verließ mich sehr auf Michelles Stärke und elterliche Kompetenz, und ich hing sehr von der übernatürlich guten Laune und Reife meiner Töchter ab, die sie übergangslos ins Weiße Haus mitnahmen. Und ich könnte nicht stolzer darauf sein, wer unsere Töchter geworden sind. Als Familie hatten wir das Privileg, die Welt zu sehen, beeindruckende Menschen kennenzulernen und die Kraft und die Widerstandsfähigkeit dieser Nation aus der Nähe zu erleben. Ich habe auch mehr Zeit mit den Kindern verbracht, als ich es vielleicht hätte tun können, wenn ich noch Senator gewesen wäre - da ich ja, wie ich in dem Buch beschrieben habe, über dem Laden wohnte. Das bedeutete, ich konnte jeden Abend um halb sieben mit der Familie essen, selbst wenn ich danach wieder arbeiten musste. Das soll nicht heißen, dass es keine unangenehmen oder schwierigen Momente gab, zum Beispiel, wenn man andere Eltern anrufen und erklären musste, warum ihr Zuhause zuerst von Geheimdienstagenten inspiziert werden müsse, bevor Sasha zum Spielen kam, oder wenn ich gemeinsam mit meinem Stab eine Boulevardzeitung drängen musste, eine Aufnahme von Malia und ihren Freundinnen, die sich in der Shopping Mall die Zeit vertrieben, nicht abzudrucken. Plötzlich war es ein gewaltiges Unterfangen, als Vater und Tochter gemeinsam ein Eis zu essen oder in eine Buchhandlung zu gehen, mitsamt Straßensperrungen, Anti-Terror-Einheiten und der Presse. Ob es Momente gab, in denen ich Zweifel empfand oder mich entmutigt fühlte? Sicher. Ob wir als Familie belastet waren? Leider ja. Aber im Wettstreit mit meinem Vertrauen in Amerikas Möglichkeiten und unsere Fähigkeit, auf dem Weg zu höheren Ideale voranzuschreiten, spreche ich wohl für meine ganze Familie, wenn ich sage, dass die Hoffnung immer noch gewinnt.

Sie befassen sich mit frühen Konflikten in Ihrem Leben - zwischen dem Streben nach Veränderung innerhalb des Systems und dem Kampf gegen das System, zwischen dem Wunsch eine Führungsrolle zu übernehmen, aber gleichzeitig die Menschen befähigen zu wollen, selbst etwas zu verändern, in die Politik zu gehen, aber nicht Politiker zu sein. Was raten Sie der nächsten Generation, die heute mit denselben Fragen und widerstrebenden Kräften zu kämpfen hat?
Ach, wissen Sie, wie so vieles im Leben ist das kein Fall von entweder oder, sondern von sowohl als auch. Wenn man versucht, so tiefgreifende Veränderungen zu erreichen wie die, über die wir sprechen - ob es Einkommensungleichheit ist, Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder die Klimakrise -, da besteht kein Zweifel, dass wir einen Graswurzel-Aktivismus und Protest brauchen, der den Menschen die Augen öffnet. Das rüttelt sie aus ihrer Selbstzufriedenheit. Es gibt ihnen die Energie, um zu glauben, dass sie ihre Zukunft selbst gestalten können. Gleichzeitig müssen wir die politischen Machthebel betätigen - dazu gehört Organisieren, Wählen, Kandidieren - um den großen, nachhaltigen Wandel herbeizuführen, der zu wahrem Fortschritt führt. Und ich bin optimistisch. In den letzten vier Jahren haben wir eine enorme Menge an Energie und Begeisterung - und Konzentration - von einer gewaltigen Menge Amerikanerinnen und Amerikaner jedweder Herkunft gesehen. Und weil sich die Menschen engagiert haben und weil sie gewählt haben, schicken wir nun Joe Biden und Kamala Harris ins Weiße Haus. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie alles tun werden, um unser Land zu einen. Doch das wird nicht leicht - wir müssen uns weiter beteiligen und sie unterstützen. Denn in Wahrheit sieht es so aus: Man wählt nicht nur einen Präsidenten, lehnt sich dann zurück und hofft, er oder sie wird es schon erledigen. Man muss informiert und engagiert bleiben - und man muss weiterhin wählen. Denn wie wir während meiner beiden Amtszeiten gesehen haben: Selbst wenn man mit einer großen Regierungsmehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat startet, kann man sie verlieren. Und wenn man dann mit einem Senat dasteht, der lieber alles blockiert als zusammenarbeitet, dann muss man ein paar Sitze umdrehen. Und das geht allein durch Teilhabe - man muss sich weiter beteiligen und die Koalition vergrößern, bis man eine Regierung hat, die einem entspricht und die eigenen Interessen widerspiegelt. Das gilt für die Bundesebene genauso wie für die Einzelstaaten und die Kommunen.

Sie sagen, Demokratie wird nicht einfach an uns weitergegeben, sondern es ist etwas, das wir aktiv gemeinsam erschaffen. Wie können die Menschen in einer zunehmend polarisierten und kontroversen Welt die demokratischen Ideale hochhalten?
Nun, es besteht kein Zweifel, dass das Land im Moment zutiefst gespalten ist. Wenn ich an meine erste Präsidentschaftswahl 2008 zurückdenke, fühlte sich das Land nicht so zerrissen an, zerteilt durch eine Kombination aus politischen, kulturellen, ideologischen und in manchen Fällen religiösen und geographischen Trennlinien, die tiefer zu gehen scheinen als nur politische Differenzen. Ich glaube, viel hat damit zu tun, wie die Menschen heutzutage an Informationen gelangen. Ich habe das schon früher thematisiert, und ich schreibe auch in meinem Buch darüber. Wenn man Fox News ansieht, nimmt man eine andere Realität wahr, als wenn man die „New York Times“ liest. Dieser Unterschied war früher nicht so gravierend, weil man die Lokalzeitungen hatte und es mehr Überschneidungen dabei gab, wo man seine Informationen herbekam. Doch jetzt, zum Teil wegen der sozialen Medien und der Echokammer der Quellen, denen wir bereits zustimmen, glauben viele Menschen, die Donald Trump gewählt haben, den Fakten zum Trotz nicht, dass der Umgang mit dem Coronavirus verkehrt war. Bevor wir keine gemeinsame Faktengrundlage und die Fähigkeit haben, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, funktioniert der Marktplatz der Ideen definitionsgemäß nicht. Und unsere Demokratie funktioniert dann ebenfalls nicht. Als Bürger müssen wir unsere Institutionen drängen, diese Herausforderungen anzugehen. Gleichzeitig müssen wir engagiert bleiben - und nicht nur jedes Mal, wenn ein tragischer Vorfall passiert, der die Ungerechtigkeiten unseres Landes stark hervorhebt, oder alle vier Jahre, wenn ein Präsident gewählt wird. Wenn man den angestrebten Fortschritt nicht erkennt, muss man ganz genau betrachten, wer oder was dem wirklich im Weg steht. Ich weiß, das kann anstrengend sein. Aber damit diese Demokratie fortdauert, braucht es unsere aktive Bürgerschaft und die anhaltende Konzentration auf solche Themen - nicht nur in einer Wahlsaison, sondern in all den Tagen dazwischen. Letztlich habe ich Vertrauen in meine Mitbürgerinnen und Mitbürger, besonders in die der nächsten Generation, für die es schon selbstverständlich zu sein scheint, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Sie bestehen darauf, die Grundsätze zu verwirklichen, die ihnen ihre Eltern und Lehrer als wahr beigebracht haben, aber in der Realität nicht immer umgesetzt wurden.

Welche Botschaft möchten Sie mit Ein verheißenes Land vermitteln?
Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, über meine Zeit als Präsident nachzudenken. In „Ein verheißenes Land“ habe ich versucht, ehrlich über meinen Präsidentschaftswahlkampf und meine Zeit im Amt zu berichten: die Schlüsselereignisse und die Menschen, die sie gestaltet haben, meine Sicht darauf, was ich richtig gemacht und welche Fehler ich begangen habe, und die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte, denen mein Team und ich uns damals stellen mussten - und mit denen wir als Nation immer noch ringen. In dem Buch habe ich auch versucht, der Leserschaft ein Gefühl für die persönliche Reise zu geben, die Michelle und ich in diesen Jahren angetreten haben, mit all ihren unglaublichen Höhen und Tiefen. Und letztlich enthält das Buch, zu einer Zeit, in der Amerika einen solchen gewaltigen Umbruch erlebt, ein paar weiterführende Gedanken von mir, wie wir die Spaltungen in unserem Land heilen können, indem wir voranschreiten und dafür sorgen, dass die Demokratie für alle Menschen funktioniert - eine Aufgabe, die nicht von einem einzigen Präsidenten abhängt, sondern von uns allen als engagierten Bürgerinnen und Bürgern. Ich hoffe, dass das Buch nicht nur vergnüglich und informativ zu lesen ist, sondern vor allem, dass es junge Menschen im ganzen Land - und auf der ganzen Welt - dazu inspiriert, den Staffelstab in die Hand zu nehmen, die Stimme zu erheben und ihre Rolle darin zu spielen, die Welt zum Besseren zu verändern.

Kronen Zeitung/krone.at

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