6 Stunden im Keller:

„Ganze Zeit das Gefühl, der kommt gleich herein“

Wien
03.11.2020 19:09

„Krach. Krach. Krach. Wir drehen uns um, schauen rüber, sehen: Da zersplittert etwas, und es wird lauter. Und auf einmal wird uns klar, das ist nicht die Abluft, die herunterfällt. Da wird geschossen.“ Simone (Name von der Redaktion geändert) war am Montagabend in jenem Restaurant bei der Wiener Ruprechtskirche, in dessen Nähe die Polizei den Attentäter, der vier Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt hatte, erschießen konnte.

Ein letztes Mal vor dem Lockdown will sie den lauen Abend genießen, mit Freunden zusammensitzen, trinken und plaudern. Draußen vor dem Lokal, wo Simone eine Zigarette raucht, sitzt auch jene Kellnerin, die dem Mörder zum Opfer fallen sollte, eine junge, herzliche Frau in ihren Zwanzigern, die an diesem Tag privat vor Ort war. Doch Simones Schnitzel kommt rechtzeitig, zehn Minuten, bevor die Schüsse fallen. Zum Essen ist es im Freien dann doch ein wenig zu kalt, also verlässt sie den Schanigarten. Eine Entscheidung, die ihr womöglich das Leben rettet.

Als die Schüsse fallen, herrscht einen Moment lang Verwirrung. Dann flüchtet Simone instinktiv unter den Tisch und zerrt verzweifelt an den Beinen ihrer Begleitung. „Aber der Tisch war nicht so groß, da hab' nur ich daruntergepasst“, erzählt sie. Ein kleines Baby bemerkt sie auch in der Nähe, nicht älter als ein halbes Jahr.

Nach und nach wird allen klar, was vor sich geht: Im Schanigarten wird geschossen. Die Gäste kauern unter den Tischen. Die Schüsse klingen weiter herein. „Ich habe die ganze Zeit auf die andere Seite vom Gang geschaut. Wir hatten die ganze Zeit das Gefühl, der kommt gleich herein und geht den Gang entlang einmal durchs Lokal durch.“

„Alle in den Keller!“
Etwa fünf Minuten dauert diese Ewigkeit im Inneren des Lokals. Dann schreit jemand: „Alle in den Keller!“ An diesem Punkt hätte leicht Massenpanik ausbrechen können, vermutet Simone. Zum Glück schaffen es aber alle Anwesenden die Stiegen hinunter und verteilen sich im Kellerraum. „Da lag bereits ein Mann um die 25 mit einer Schusswunde in der Schulter. Er war weiß wie die Wand. Dann hat jemand geschrien, wir sollen die Rettung rufen. Genau beim Abluftschacht konnte das zum Glück jemand tun, ansonsten war der Telefonempfang im Keller sehr schlecht.“

Es dauert einige Minuten, bis der Anruf bei der Rettung tatsächlich eingeht; die Leitungen laufen zu diesem Zeitpunkt bereits heiß. Inzwischen verbarrikadieren die Lokalgäste die Türen und positionieren sich so, dass jemand, der sie durchschießen würde, niemanden treffen könnte.

Sechs Stunden lang harren die Gäste in Todesangst im Keller aus. Die Informationslage ist dürftig, der Empfang ist zu schlecht, um Nachrichten empfangen zu können. Einige Menschen können die Einsatzkräfte bereits früher bergen; der angeschossene Mann wird nach eineinhalb Stunden abgeholt. Die Polizei kommt nach einer Stunde zum ersten Mal; einer der Gäste verlangt lautstark einen Ausweis, bevor er die Türe entriegelt - schließlich wusste niemand, wer da kam.

Nach und nach bringt die Polizei immer mehr Menschen in den Keller. Anfangs sind es knapp 50 Menschen, gegen zwei Uhr morgens dann bereits 60. Ein großer Bottich wird als Toilette umfunktioniert. „Der war nach sechs Stunden voll. Es war, wie man es aus den Filmen kennt, wenn sich Leute vor einem Fliegeranschlag verstecken - alles sehr improvisiert.“ Dennoch ist das Restaurantpersonal sehr bemüht, sorgt sich um das Wohl der Menschen, schenkt Getränke aus.

Die Polizei kommt immer wieder herein. Einmal, um um Videoaufnahmen zu bitten. „Aber wir waren quasi die Ersten, die getroffen wurden. Da hat niemand ans Filmen gedacht. Wir wussten, es handelt sich um einen Mann, circa 1,80 Meter groß. Aber mehr auch nicht.“ Einmal kommt ein Polizist wortlos in den Keller, holt sich eine Literflasche Wasser, trinkt sie in einem Zug aus und geht wieder. Alles scheint surreal.

„Abwechselnde Zusammenbrüche“
Simone bleibt unverletzt, es geht ihr mal so, mal so. „Wir haben da unten alle sehr zusammengehalten und uns sehr umeinander gekümmert“, erzählt sie. „Da hatte man dann abwechselnd Zusammenbrüche.“ Viele haben gar keine Erinnerung an die ersten paar Schreckminuten, viele stehen in Kontakt mit dem psychosozialen Notdienst. „Jedes Mal, wenn jetzt jemand im Fernsehen ,Schüsse‘ sagt, dann höre ich wieder dieses ‚Rat-tat-tat‘“, sagt Simone. „Und das kennt man nicht, wenn man ein normales Leben in der Großstadt führt. Höchstens aus Filmen.“

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