Fehlender Respekt

Wie weit soll der Selfie-Wahnsinn noch gehen?

Leben
08.07.2019 06:00

Junge Leute wählen ihr Reiseziel nach dem schönsten Motiv für Selfies aus und erhalten dafür Bestätigung, die für manche zur Sucht werden kann. Die Respektlosigkeit nimmt dabei drastisch zu. 

Auf Instagram und Facebook präsentieren sich zahlreiche Frauen und Männer in selbstbewusster Pose. Sie sind top gestylt, lächeln in die Kamera und speisen hippes Essen. Social Media ist der perfekte Ort, zu zeigen, wer man ist beziehungsweise wer man sein will. Kaum ist das Foto online gestellt, gibt es bereits die ersten Bestätigungen, dass die Aufnahme auch andere schön finden. Gefällt-mir-Angaben sind zur Belohnung geworden, die auch süchtig machen. 

Mit dem Eröffnen von eigenen Selfie-Museen, hat der Foto-Wahn eine neue Dimension angenommen. Riesige Zuckerl stehen dort für perfekte Aufnahme. Die Jagd nach dem passenden Schnappschuss ging in Kanada im Vorjahr sogar so weit, dass Tausende Instagrammer Sonnenblumenfelder stürmten und so die Ernte des Bauern zerstörten.

Auch Hotels und Restaurants achten bei der Architektur und Innenausstattung mittlerweile auf die Bedürfnisse der Hobby-Fotografen. In hellen Räumen schmeicheln nämlich den Aufnahmen. Wenige Minuten später landen sie im Internet und werden so zu Gratis-Werbung für die Lokale.

Skurrile Fakten: 40 Prozent der 18- bis 33-Jährigen suchen sich ihr Reiseziel nach der „instagrammability“ aus, also nach dem Potenzial, schöne Fotos für Social Media zu machen. Für manche endet der Ausflug aber auch mit dem Tod oder einer Verletzung, weil sie für die perfekte Aufnahme ihr Leben aufs Spiel setzen. Jüngst stürzte deswegen ein Steirer (16) von einem Dach - verletzt.

Nicht zu unterschätzen ist der Zeitaufwand für ein Selfie: sieben Minuten dauert nämlich im Durchschnitt ein Porträtfoto (siehe Grafik unten). Blöd ist nur, dass mehr als die Hälfte der Menschen das gemachte Foto von sich gar nicht mehr sehen will, so das Ergebnis einer deutschen Studie.

Respektlose Instagram-Touristen
Für ein Selfie pilgern junge Leute auch an Orte, die mit Tod und Katastrophe verbunden sind. Es fehlen die Worte, wenn man sieht, wie etwa ein junger Mann auf den Gleisen der KZ-Gedenkstätte in Auschwitz stolziert und davon ein Foto auf Instagram veröffentlicht. Während der NS-Zeit wurden hier 1,5 Millionen Menschen ermordet. Da die Foto-Kultur im ehemaligen Konzentrationslager auf respektlose Art und Weise zunahm, wurden Selfie-Sticks auf dem gesamten Areal verboten.

„Menschen sind hier gestorben!“
Ein ähnliches Problem hat das ukrainische Tschernobyl. Seit der gleichnamigen HBO-Serie pilgern Touristen an den Ort, an dem am 26. April 1986 ein Kernreaktor explodierte und Tausende Opfer forderte. Vor dem Hintergrund einer Geisterstadt posieren junge Menschen, denen das Ausmaß der Atom-Katastrophe nicht bewusst ist. Doch auf Instagram hagelt es für solche Aufnahmen auch Kritik: „Menschen sind hier gestorben! Hast du kein Respekt?“, schreibt eine Frau.

In ihrem Buch „Das Millennial Manifest“ beschreibt Bianca Jankovska die Generation, die sehr oft nach dem perfekten Selfie jagt. 

„Krone“: Wie würden Sie die Millennial-Generation beschreiben?
Bianca Jankovska: Millennials wurden zwischen 1981 und 1993 geboren und sind zur Jahrtausendwende (Millennium) ins Arbeitsleben eingetreten. Sie können nicht darauf vertrauen, dass ihr Leben nach altbekannten Mustern verlaufen wird, zum Beispiel wegen befristeten Jobangeboten.

Warum spielt vor allem für diese Gruppe das schöne Foto auf Instagram eine wichtige Rolle?
Weil es kurzfristige Bestätigung von außen liefert und zeigt, dass man kreativ ist. Das erhöht den Dopamin-Gehalt und kann süchtig machen. Wer mag es nicht, gemocht zu werden?

Wie sehen Sie die Entwicklung der Millennial-Generation?
Im besten Fall werden wir als Generation widerspenstiger, lernen, uns zu wehren gegen spätnachts versandte WhatsApp in der Firmengruppe und emanzipieren uns vom Gedanken der traditionellen Karriere, die im Endeffekt wie ein normaler Job ist - nur mit mehr Verantwortung, überstrapazierten Nerven und weniger Schlaf.

Kathi Pirker, Kronen Zeitung

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(Bild: kmm)



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