Zeugen erinnern sich

Hölle auf Erden: Brünner Todesmarsch vor 75 Jahren

Niederösterreich
31.05.2020 09:14

27.000 deutschsprachige Frauen, Kinder und alte Männer wurden ab dem 31. Mai 1945 aus ihrer Heimat Brünn (damals Tschechoslowakei, heute Tschechische Republik) vertrieben. Mehr als 5000 starben. Heute jährt sich die Tragödie zum 75. Mal.

Nach sechs Jahren Krieg sehnten die Menschen in Brünn den Frieden herbei. Unter den verbliebenen Einwohnern der Stadt befanden sich auch 27.000 deutschsprachige Altösterreicher, sogenannte Sudetendeutsche. Es waren fast ausschließlich Frauen und Kinder sowie alte Männer. Denn die Männer im wehrfähigen Alter befanden sich fast alle in Kriegsgefangenschaft.

Doch noch im Mai 1945 begann für sie ein unsagbarer Leidensweg. „Wir waren über Nacht rechtlos“, erinnert sich die heute 91-jährige Helga Roder im Gespräch mit der „Krone“. So mussten alle Deutschsprachigen eine weiße Armbinde mit einem „N“ tragen: „Das stand für ,Nemec‘ - Deutscher. Außerdem durften wir nicht mehr mit der Straßenbahn fahren, den Gehsteig nicht benutzen und mussten bei Einbruch der Dunkelheit daheim sein.“

Als der tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Beneš die Stadt besuchte, wurden diese Altösterreicher tagelang weggesperrt. „Wir glaubten aber, dass sich die Situation wieder normalisieren würde. Meine Familie lebte ja schon seit vier Generationen in Brünn“, so Roder weiter.

Doch es kam anders: „Am 31. Mai hämmerten Tschechen an die Türe und sagten, dass wir raus müssen. Wir dachten, dass es wieder nur ein paar Tage sein würden.“

Die Hölle auf Erden brach über sie herein
Aber dieses Mal war es für immer: Die 27.000 Sudetendeutschen wurden zunächst im Augustinerkloster gesammelt und dann bei brütender Hitze Richtung Österreich getrieben. „Es war die Hölle“, schildert Ulrike Tumberger. Ihre Mutter überlebte die Tortur und gründete in Wien den Vertriebenenverband „Bruna“: „Die tschechischen Milizionäre waren gnadenlos. Wenn jemand nicht mehr weiter konnte, wurde er erschossen, oder sie zertrümmerten ihm mit dem Gewehrkolben den Schädel.“

Selbst vor Kleinkindern machte die Mordlust nicht Halt. „Ich habe gesehen, wie einer der Tschechen einer Mutter ihr Baby aus den Armen riss und in einen Fluss warf“, erinnert sich eine heute wieder in Brünn lebende Zeitzeugin unter Tränen.

Unzählige Menschen starben auch ohne das Zutun der Wachmannschaften - an Hunger, Krankheit oder Erschöpfung. Schwangere erlitten Totgeburten, mussten ihre Säuglinge im Straßengraben liegen lassen und weitermarschieren. Tumberger: „Der Weg von Brünn nach Wien ist mit Massengräbern gepflastert. Die meisten sind nicht einmal gekennzeichnet.“ Eine Ausnahme bildet die Grabstätte in Pohrlitz, wo 890 Opfer ruhen. Dort erinnert auch eine zweisprachige Inschrift an die Ereignisse. Regelmäßig finden hier tschechisch-österreichische Gedenkveranstaltungen statt.

Das Sterben ging auch in Österreich noch weiter
Als der Tross der ausgemergelten Opfer im Juni 1945 nach mehreren Tagen den Grenzort Drasenhofen (NÖ) erreichte, waren die Menschen mehr tot als lebendig. „Bei uns nahmen Bürger die Vertriebenen auf, und auch die russischen Besatzungssoldaten versorgten sie mit Nahrung“, berichtet der frühere Bürgermeister Hubert Baier. 5200 Altösterreicher überlebten die Vertreibung aus Brünn nicht - davon starben etwa 1000 noch nach der Ankunft in Österreich an Entkräftung.

2015 entschuldigte sich die Stadt Brünn für das Vertreibungsverbrechen.

„Die Stadt Brünn bedauert aufrichtig die Ereignisse vom 30. Mai 1945 und der folgenden Tage, als Tausende Menschen zum Verlassen der Stadt gezwungen wurden. Wir machen uns bewusst, zu welchen menschlichen Tragödien sowie kulturellen und gesellschaftlichen Verlusten es damals gekommen ist“, erklärte der damalige Bürgermeister Petr Vokral in einer aufsehenerregenden Ansprache.

Doch der Brünner Todesmarsch war erst der Auftakt zu einem noch größeren Drama: Bis 1948 wurden drei Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben - bis zu 273.000 kamen dabei um.

Zahlen, Daten und Fakten zu den deutschsprachigen Altösterreichern in der Tschechoslowakei
Fast 1000 Jahre lang lebten auf dem Gebiet des heutigen Tschechien deutschsprachige Siedler. Ab 1804 waren diese 3,5 Millionen Menschen Bürger des Kaisertums Österreich. Sie bezeichneten sich selbst als Sudetendeutsche. Im Jahr 1900 hatten von den 110.000 Einwohnern Brünns 70.000 Deutsch und 40.000 Tschechisch als Muttersprache. Nach dem Ende der Monarchie im Jahr 1918 fielen die vornehmlich von deutschsprachigen Altösterreichern bewohnten Gebiete Böhmens und Mährens ohne Volksabstimmung gegen den Willen der dort lebenden Bevölkerung an die neu gegründete Tschechoslowakei. In der französischen Zeitung „Le Matin“ erklärte der erste tschechoslowakische Staatspräsident, Tomas Garrigue Masaryk, angesprochen auf die mehr als drei Millionen Sudetendeutschen im Land, bereits im Jänner 1919 dass er davon überzeugt sei, dass es „eine rasche Entgermanisierung dieser Gebiete“ geben werde. Als die sudetendeutschen Altösterreicher im März 1919 dafür demonstrierten, weiter, beziehungsweise wieder, zu Österreich zu gehören, erschoss das tschechoslowakische Militär im ganzen Land 54 Demonstranten. Die Spannungen zwischen der Prager Regierung und den Altösterreichern nahmen zu. Das Blatt „Zlata Praha“ forderte: „Die Deutschsprachigen müssten mit der Peitsche aus dem Land getrieben werden!“ 1945 bis 1948 setzte der neue Präsident Edvard Beneš genau das in die Tat um: Über 3 Millionen deutschsprachige Altösterreicher verloren ihre Heimat. Ihr gesamter Besitz wurde enteignet, eine Entschädigung haben sie nie erhalten. Alle Verbrechen an diesen Menschen wurden durch die Beneš-Dekrete straffrei gestellt. 2013 drückte der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg sein Bedauern darüber aus und erklärte, dass Präsident Beneš für diese Verbrechen heute wohl vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag landen würde. Eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten stammt aus Böhmen und Mähren. Dazu zählen Kardinal Christoph Schönborn, der Bundespräsident Adolf Schärf, der niederösterreichische Landeshauptmann Siegfried Ludwig, Flugpionier Igo Etrich, der Physiker Ernst Mach oder die beiden Judenretter Oskar Schindler („Schindlers Liste“) und Ludwig Semrad, die von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wurden. Mehr Infos zum Thema: www.antikomplex.cz, www.houdeklukas.com, www.sudeten.at

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