Melissa Etheridge

Melissa Etheridge im Interview

Musik
29.10.2007 16:10
Trennung, Albumflop, Hochzeit, Brustkrebs, Zwillinge - bei Melissa Etheridge wechselten Freud und Leid in der jüngsten Vergangenheit beinah im Jahresrhythmus. Doch seit ihrem legendären Auftritt bei den Grammy-Awards 2005, wenige Wochen nach Abschluss einer Chemotherapie, ging es wieder bergauf für die 46-Jährige. Auf ihrem neuem Album "The Awakening" verarbeitet sie die Geschehnisse der letzten Jahre und insbesondere das neue Lebensgefühl, dass ihr die schreckliche Erkrankung brachte. Warum Melissa Etheridge den Krebs als "Erleuchtung" empfindet, was in ihrem neuen Album steckt und wie sie als gegen Klischees nicht gefeite Lesbe, die stets die Wahrheit sagt, ihre Heimat verändern will, erzählt sie im krone.at-Interview.
(Bild: kmm)

Melissa Etheridge lebt in Kalifornien zusammen mit ihrer Frau, der Schauspielerin Tammy Lynn Michaels ("The L Word") und den Zwillingen Miller Steven und Johnnie Rose, die ihre Partnerin 2006 zur Welt brachte. Zudem teilt sie sich das Sorgerecht über zwei weitere Sprösslinge mit ihrer Ex Julie Cypher.

Der Durchbruch kam 1988 mit dem Smash-Hit "Bring Me Some Water". Erst 1993, auf einer Gay-Feier zu Ehren Bill Clintons, outete sie sich vor laufender Kamera mit den Worten "...and I'm proud to be a lesbian".

Melissa Etheridge ist bekannt für ihre Liebe zu Amerika und gleichzeitig für ihre Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit, das so gar nicht mit der derzeitigen Agenda von George Bush zusammenpasst. Als Freundin von Al Gore (er wählte sie als Act für seine Friedensnobelpreisfeier) ist sie auch im Bereich Umweltschutz engagiert. Etwa tourte sie 2004 ausschließlich mit Biodieselfahrzeugen durch die Lande, was in den USA gar nicht so einfach ist. Ihre Musik lebt vom Einfluss großer Menschenrechtler und den Genres der US-Musikgeschichte: Blues, Country und Rock'n'Roll. Musikalisches Markenzeichen ist eine 12-saitige Akustikgitarre der Marke Ovation.

"The Awakening"
Mit "The Awakening" präsentierte Melissa Etheridge ihr möglicherweise erstes Konzeptalbum überhaupt. Die Songs sind intim, sehr persönlich und verraten viel über Gefühlsleben - aber auch über ihre Entwicklung vom Teenager, der um jeden Preis den American Dream leben will und vom Geld im Überfluss träumt, bis hin zur Gay-Ikone und musikalischen Bürgerrechtlerin, die sie jetzt ist. Die Single "Message To Myself" schrieb sie als ermunternde Botschaft an sich selbst. Im Video (siehe oben) treten übrigens die Zwillinge und Tammy Lynn Michaels auf.

Etheridge geht auf "The Awakening" sehr chronologisch vor. Beginnt mit "California", der Ode an den Sunshine-State und streift mit Songs wie "God Is In The People" auch religiöse Themen. Mit "Map Of The Stars" spart sie den einen Seitenhieb auf Laufstegpromis und One-Hit-Wonders nicht aus. Ein weiteres Hightlight ist der Song "Threesome", der von ihrer Abneigung gegenüber "Flotten Dreiern" handelt. Tammy Lynn Michaels enthüllt in ihrem Blog ein unmoralisches Angebot der US-Schauspielerin Linda Evans als Hintergrund für das Lied, das schlussendlich ein Treuegelübde ist. Mit "Kingdom Of Heaven", "Open Your Mind" oder "Imagine That" legt Melissa Etheridge auf "The Awakening" auch gewohnt kritisch-politische Songs vor.

Man beschreibt Melissa Etheridge gerne als Frau mit Power und Energie. Wie sehr sind sie sich ihrer Wirkung auf andere Menschen bewusst?

Melissa Etheridge: Mmh. Man sagt es mir, so wie Sie jetzt zum Beispiel. Manchmal treten die Menschen aber auch selbst an mich heran und sagen Dinge wie „Thank you, you‘re such a powerful woman“. Wie sehr ich mir dessen bewusst bin? Überhaupt nicht! Ich habe mich vor langer Zeit dazu entschieden, dieser Welt mit der Wahrheit und nichts als der Wahrheit zu begegnen. Ich gebe nicht vor, jemand anderer zu sein. Und es amüsiert mich, wenn das jemand als besonders willensstark empfindet und wie couragiert es angeblich rüberkommt, wenn jemand die Wahrheit spricht. Ich staune täglich darüber, in was für einer lustigen Welt wir leben, wo Wahrheit und Wahrhaftigkeit Courage bedeuten. Sollte es nicht normal sein, dass man jeden Tag seines Lebens ehrlich ist?

Zeigt das nicht, dass es offenbar nicht so einfach ist?

Melissa Etheridge: Aber das sollte es sein! Jeder sollte die Wahrheit sagen können! Das, was man denkt. Ich mache das jeden Tag, weil es für mich einfach passt. Es funktioniert für mich am besten und sondererbarerweise, mag man mich dafür. Vielleicht inspiriert es?

Im Booklet ihres neuen Albums „The Awakening“ schreiben sie, dass die Chemotherapie nach ihrer Brustkrebserkrankung eine „erleuchtende Erfahrung“ gewesen sei. Wie kann etwas, das für gesunde Menschen der blanke Horror ist; etwas, das jeder fürchtet, eine „Erleuchtung“ sein?

Melissa Etheridge: Eben weil du etwas durchleben musst, das jeder fürchtet! Ich hatte mir Krebs und Chemotherapie immer als eine massive, dicke Wand vorgestellt, an der ich einfach abprallen werde. Aber das stimmt nicht. Du stehst es durch, du gehst geradeaus durch diese Wand. Sobald du die Angst überwunden hast, kommst du dahinter, dass die Angst eigentlich schlimmer ist, als der Krebs. Das heißt natürlich nicht, dass Chemotherapie nicht fürchterlich wäre. Es war das Schrecklichste, das mir je passiert ist!

Aber es hat mir Frieden und Ruhe gegeben. Ich habe gearbeitet seit ich elf war. Ich wollte schon als Kind ein Rockstar werden, habe dauernd nach höheren Zielen gegriffen; ich wollte mehr Geld, noch einen Hit und ich habe diese Ziele im Sprint verfolgt. Als die Chemotherapie anstand, musst ich plötzlich mit allem aufhören. Ich musste mich komplett von der Außenwelt abkapseln, konnte nicht fernsehen, nicht einmal Musik hören. Ich hatte nur Schmerzen.

Wenn du so abschalten musst, hast du nur mehr dich selbst. Du beginnst zuerst, dich selbst auszulachen und bekommst dann eine vollkommen neue Perspektive auf dein Leben. Du denkst darüber nach, ob es wirklich deine Bestimmung ist, einen Haufen Geld zu scheffeln und teure Dinge zu kaufen. Du fragst: Ist das der Sinn des Lebens?

Nein! Ist es nicht. Es ist eine große Lüge, verbreitet von Menschen, die dahintergekommen sind, dass sie etwas etwas erfinden könnten, von dem sie dich und mich überzeugen können, dass wir es unbedingt brauchen. Und wir beginnen dafür zu arbeiten, dafür zu sparen. Wir machen Schulden, um es zu kaufen. Dann geraten wir in diesen Teufelskreis aus Arbeiten und Kaufen und verbringen fortan unser ganzes Leben damit, für etwas zu arbeiten, das wir kaufen wollen. Speziell in Amerika funktioniert das sehr gut.

In Europa funktioniert es auch. Sagen Sie mir, wenn ich mich zu weit aus dem Fenster lehne: Kann es sein, dass Sie eine Art Dankbarkeit für den Krebs empfinden?

Melissa Etheridge: Ja. Absolut. Krebs hat mich zu einer besseren Person gemacht. Mein Leben hat sich durch die Krankheit zum Besseren verändert.

Die Songs auf ihrem neuen Album sind sehr autobiografisch. Es klingt fast, als könnten sie neben sich stehen und sich selbst aus der dritten Perspektive betrachten - allerdings immer noch mit eigenen Augen. Wie kam es zu dieser neuen Art von Selbstwahrnehmung?

Melissa Etheridge: Ich schrieb schon immer autobiografisch, also war es nur ein kleiner Schritt zu dieser neuen Entwicklung. Diesmal hab ich mich selbst erforscht, sogar vom Karrierestandpunkt aus. Ich machte einen Schritt zurück und betrachtete mich selbst und was mich so weit gebracht hat und wo ich jetzt überhaupt stehe. Das passiert ganz besonders im ersten Teil des Albums. Ich versuchte mir selbst für meine Entscheidungen in der Vergangenheit zu vergeben. Zum Beispiel bei „Unexpected Rain“. (Anmk.: Ein Song, in dem sie sich bei einer verflossenen Liebe für ihre Kälte entschuldigt) Dann schrieb ich „Message To Myself“ um mir selbst eine Nachricht zu schicken. Ich hatte zu lange diese Songs geschrieben, in denen ich meinen Schmerz verarbeite. Jetzt wollte ich mir selbst sagen, dass alles in Ordnung ist. I‘m fine. I‘m loved. Und ich bin wach, awake.

Wie hat sich der Moment angefühlt, als sie nach der Chemo zum ersten Mal wieder mit vollen Kräften auf der Bühne standen?

Melissa Etheridge: Ehrlich gesagt, der erste Auftritt nach der Krankheit war bei den Grammys. (überlegt kurz) Das war das erste Mal.

Aber sie hatten doch auch irgendwann Probe oder so etwas?

Melissa Etheridge: Mmh, mal sehen. Ja, ich habe zwischendurch ein bisschen Klavier gespielt und natürlich habe ich den Song (Anmk.: Janis Joplins „Piece Of My Heart“) ein, zwei Mal zuhause durchgespielt - aber glauben Sie mir, den kann ich auswendig! (lacht) Nein, ich war zum ersten Mal bei den Grammys wieder auf Touren. Das Witzige ist, beim eigentlichen Auftritt war ie erst frisch aus dem Krankenhaus und hatte immer noch eine Glatze von der Chemo. Mehr als diesen einen Song hätte ich gar nicht spielen können. Bei der Dressing-Probe hatte ich mich dann so ins Zeug gelegt, dass ich beim zweiten Mal - der eigentlichen Show - schon sehr schwach war. Andererseits war das gut so, besser fürs Fernsehen. Wenn ich im Fernsehen performe, sehe ich meistens furchteinflößend aus...

Wie darf man das verstehen?

Melissa Etheridge: Bei einem Auftritt vor viel Publikum projiziere ich meine Energie auf alle, die da sind. Der Funke soll auf alle überspringen, deswegen übertreibe ich mit meiner Mimik. Das ist aber blöd, wenn du Kameras im Gesicht hast und die Leute zuhause dich in Großaufnahme am Fernseher sehen. Dass ich beim zweiten Auftritt müde war, kam der Performance also gerade recht. Das Feeling für mich war ohnehin der Wahnsinn. Ich konnte wieder schreien und brüllen - es war ein lautes „Hey I‘m back! I‘m alright!“ (lacht)

Der Song „Imagine That“ klingt sehr Springsteen-like und obendrein sehr weise. Glauben Sie, dass Musik einen Krieg beenden kann?

Melissa Etheridge: Menschen können Kriege beenden. Und Gedanken. Und Wissen. Künstler sind nur das Gewissen der Gesellschaft, die ihr die Geschichten immer und immer wieder vortragen. Wir sind der Spiege, der sagtl: Ich fühle mich jetzt gerade so und so - geht es dir ähnlich? Das sind Fragen, die wir mit jedem Song stellen. Die Leute können ihn auflegen und laut rufen „Ja, ich fühle mich genauso!“.

Bruce macht das mit seinen Songs, ich mache das mit meinen Songs. Unser Land spielt momentan verrückt. Nach 9/11 haben sie dich gekreuzigt, wenn du aufgemuckt hast. Auf einmal warst du ein Verräter, unpatriotisch, un-amerikanisch. Und es gelang ihnen sogar, uns eine zeitlang zum Kuschen zu bringen.

Aber wir sind wieder aufgestanden. Hey, immerhin sind wir Rebellen! Es ist Rock‘n‘Roll! Und ich nehme das alles sehr ernst. Ich denke jetzt oft an meine Rock‘n‘Roll-Brüder und -Schwestern, die in den Sixties mit Musik eine Veränderung herbeiführen konnten. Sie wurden zum Soundtrack einer Revolution. Das ist genau, was wir jetzt brauchen.

Ist diese Veränderung in den letzten Monaten näher gerückt?

Melissa Etheridge: Ja. Es sind sich jetzt mehr Leute darüber einig, als je zuvor. Die Menschen kommen dahinter, dass uns das alles nicht guttun kann, dass es nicht okay ist. Ich spüre auch, dass dieses pseudo-patriotische Gefühl, wir wären hinter den Bad guys her, langsam verkommt. Wir sind es nämlich nicht, wir waren‘s nie - es ist eine Lüge! Die Wahrheit darüber kommt jetzt ans Tageslicht und die Menschen sehen die Dinge klarer. Unsere Regierung zerreißt unsere Verfassung und das macht mich traurig. Ich bin eigentlich stolz darauf, Amerikanerin zu sein.

Das „all american girl“...

Melissa Etheridge: Yeah! Weil echte Demokratie etwas wunderbares ist. Sie brauchen nur mich anzusehen - einen sozialen Schandfleck, eine Homosexuelle! Und trotzdem kann ich aufstehen und meine Träume erfüllen. Amerika war einmal der Platz, wo du das tun konntest. Und tief drinnen ist er es eigentlich noch.

Sie haben es mit ihren jüngsten Aktivitäten rund um Brustkrebs und Vorsorge geschafft, das Bild von Krebs in der Öffentlichkeit zu verändern. Vor fünfzehn Jahren haben Sie mit ihrem coming out als eine der ersten begonnen,  Homosexualität zu enttabuisieren. Was hat sich seitdem für die Gays verbessert? In den Köpfen der Menschen, Gesetze und so weiter...

Melissa Etheridge: Mmh, es ist auf der ganzen Welt unterschiedlich. Was ich für Amerika und Europa sagen kann, ist folgendes: Ich habe in den letzten Jahren eine Veränderung beobachtet, die fast immer auf die Wahrnehmung in den Köpfen der Menschen zurückzuführen ist. Vor zwanzig Jahren hätten die Leute gesagt „Ich kenne niemanden, der homosexuell ist. Bei uns gibt es keine Homos“.

Sich zu zeigen, aus ihren Verstecken herauszukommen, ist das Beste, was Homosexuelle tun können. Du musst in deiner Wahrheit leben, das ist das einzig Sinnvolle. Schon allein deswegen, damit dein Gesellschaftsumfeld merkt, dass wir auch etwas beitragen und wir HIER sind. Und es gibt verdammt viele von uns!

Zum Thema Homo-Ehe kann ich nur eines sagen: Wenn der Bürgermeister von San Francisco in einem Aufruf an die Gay-Community sagt „Kommt her und heiratet, es ist legal“, und es kommen viertausend Menschen auf einmal, dann spricht das Bände.

Mir persönlich geht es am meisten um die Wahrnehmung. Die Katze ist aus dem Sack, niemand kann mehr sagen, es gäbe keine Schwulen und Lesben! Und wir sollten - wir MÜSSEN die selben Rechte haben, wie alle anderen. Jeder, der bei gesundem Verstand ist, muss das anerkennen.

Glauben sie, dass es den Begriff „coming out“ in zwanzig Jahren noch geben wird?

Melissa Etheridge: Ich glaube, es wird ein antiquiertes Wort sein. Andererseits: So lange die Leute immer noch Zweifel haben und es nicht schaffen, ehrlich zu sich selbst zu sein, wird es immmer coming outs geben und geben müssen. Nur wenn es die Gesellschaft hinbekommt, ihre Psyche von der Angst vor Sex zu befreien, sehe ich eine Chance, dass der Begriff verschwindet. Sexualität muss auch als etwas Fließendes verstanden werden können.

Was ist aus ihrer Sicht das albernste Lesben-Klischee?

Melissa Etheridge: Oh, da gibt es einige! Was mich am meisten nervt, ist die Vorstellung, dass es in einer Lesbenbeziehung immer einen Männer-Part geben muss, dass eine Frau weiblich ist und die andere maskulin. Die Menschen sind der festen Überzeugung, dass Sex etwas zwischen Mann und Frau ist und sobald das zwei Frauen machen, muss sich eine davon wie ein Mann benehmen. Mein Gott ist das albern! Ich bestreite ja nicht, dass es auch in Lesbenbeziehungen eine Rollenaufteilung gibt, aber es keinesfalls so schwarz-weiß.

Im Song „Heroes And Friends“ singen Sie, das jeder von uns Helden braucht. Wer sind ihre Vorbilder?

Melissa Etheridge: Menschen wie Al Gore zum Beispiel; er inspiriert mich. Generell inspirieren mich Menschen, die rausgehen und die Wahrheit sagen. Cindy Sheehan (Anmk.: Eine Friedensaktivistin, deren Sohn im Irak starb und die vor George Bushs Ranch wochenlang kampierte) oder zum Beispiel oder Randi Rhodes (ein US-Radiomoderatorin und scharfsinnige Gesellschafts-Analytikerin). Mich faszinieren Menschen, die die Wahrheit sprechen. Immer und immer wieder - bis sie jemand hört.

Interview: Christoph Andert

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