Brisante Expertise

Kopfschuss in Wien: Angeklagter gar nicht Schütze?

Österreich
17.11.2017 13:51

Knalleffekt rund um einen am Montag am Landesgericht Wien startenden Mordprozess gegen einen 28-jährigen Kosovaren, der am 16. April 2017 in der Jägerstraße in Brigittenau einen Bekannten per Kopfschuss vorsätzlich getötet haben soll: Wenige Tage vor der Verhandlung hat das Verfahren einen ungeahnten Spin bekommen - beim Angeklagten handelt es sich möglicherweise gar nicht um den Schützen.

Das legt zumindest das Gutachten des ballistischen Sachverständigen Ingo Wieser nahe, das der vorsitzende Richter Georg Olschak einholen hat lassen. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Ermittlungsverfahren auf die Beiziehung eines Schießsachverständigen verzichtet - ein speziell im gegenständlichen Mordverfahren kaum nachvollziehbarer Umstand. Immerhin hatte der Angeklagte nach seiner Festnahme von einem Schießunfall gesprochen. Danach machte er von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch und tätigte keine Angaben mehr.

Projektil drang durch rechten Oberarm in Kopf ein
Wiesers Expertise zufolge kann die Darstellung des 28-jährigen Kosovaren nicht stimmen. Dieser hatte gegenüber der Polizei behauptet, er sei vom Getöteten - einem 26 Jahre alten Mann mit bosnischen Wurzeln, der sich in einem kriminellen Umfeld bewegt haben soll - im Zuge einer Aussprache um eine Frau, mit der angeblich beide ein intimes Verhältnis hatten, angegriffen worden und habe diesen abwehren wollen. Er will ihm mit seiner Pistole Marke Tokarev auf den Kopf geschlagen haben. Dabei habe sich unabsichtlich ein Schuss gelöst, weil ihm sein Kontrahent die Hand wegstieß. Das Projektil drang dem 26-Jährigen durch den angehobenen rechten Oberarm in den Kopf und trat an der linken Scheitelhöhle wieder aus.

Experte: "Schussauslösung durch Schlag nahezu ausgeschlossen"
Für Wieser, der die Tatwaffe eingehend untersucht und auch Falltests durchgeführt hat, ist eine Schussauslösung durch einen Schlag "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen", wie es in seinem Gutachten heißt. Der Sachverständige kommt zum Schluss, dass der Schuss aus einer Entfernung von mindestens eineinhalb Metern abgegeben wurde. Der Experte geht davon aus, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Schussabgabe am Boden lag, seinen rechten Arm abwehrend hob und der vor ihm stehende Schütze schräg nach unten feuerte.

Keine Schmauchspuren am Gewand des Angeklagten
Am Gewand des Angeklagten konnten jedoch keine Schmauchspuren gefunden werden. Das zeigte eine kriminaltechnische Analyse, die ebenfalls erst vom Hauptverhandlungsrichter veranlasst wurde, nachdem die Staatsanwaltschaft das offenbar für nicht nötig befunden hatte. Wiesers Fazit: "Falls der Angeklagte das untersuchte Gewand bei der Tat getragen hat, konnten keine sicheren Anhaltspunkte für eine Schussabgabe nachgewiesen werden."

Der 28-Jährige war von einem Bekannten unmittelbar nach dem tödlichen Schuss in eine ein einige Hundert Meter entfernte Polizeiinspektion chauffiert worden, wo er sich stellte. Es ist davon auszugehen, dass er weder Zeit noch Gelegenheit hatte, seine zuvor getragene Kleidung zu wechseln. Unmittelbar am Tatort hatten sich neben dem 28-Jährigen mehrere andere Männer befunden. Das Geschehen wurde von zwei völlig unbeteiligten Zeugen beobachtet, die in ihren polizeilichen Befragungen die Version des Mordverdächtigen stützten. Die beiden waren jedoch 40 bis 50 Meter weit entfernt, als der Schuss fiel.

"Einer der ungewöhnlichsten Prozesse, in dem ich je vertreten habe"
Die Verteidiger des Angeklagten, Philipp Wolm und Werner Tomanek, haben mit diesem selbstverständlich das Gutachten des Schießsachverständigen besprochen. "Er hat es zur Kenntnis genommen", meinte Tomanek am Freitag. Es handle sich mit Sicherheit "um einen der ungewöhnlichsten Prozesse, in dem ich je vertreten habe", so der Jurist. Normalerweise hätten Gerichte "ja Täter zu überführen, die sagen, dass sie's nicht waren. Hier habe ich einen angeblichen Täter, der sich freiwillig stellt und wo sich dann herausstellt, dass er es wahrscheinlich nicht war."

Dass die Anklagebehörde in diesem Fall von Mord ausgeht, "ohne ordentlich ermittelt zu haben", ist für Tomanek schwer zu fassen. "Bei viel problematischeren Fallkonstellationen, etwa bei polizeilichem Waffengebrauch, wäre man bei so einer Beweislage nie auf die Idee gekommen, eine Anklage wegen Mordes zu erheben. Da hätte man wahrscheinlich einen Strafantrag wegen fahrlässiger Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen eingebracht", bemerkte Tomanek.

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