Ein Jahr danach

Erdogan nach Putschversuch mächtig wie nie zuvor

Ausland
11.07.2017 12:09

Vor ziemlich genau einem Jahr haben türkische Militärs versucht zu putschen. Ankara wurde bombardiert, durch Istanbul rollten Panzer und Soldaten eröffneten das Feuer auf Zivilisten. Nach der Niederschlagung des Putschversuchs nutzte Präsident Recep Tayyip Erdogan die Gunst der Stunde und rief den Notstand aus, um per Dekret zu regieren. Den Jahrestag nutzen er und seine AKP zur Demonstration ihrer Macht.

Am Dienstag sollen die Gedenkfeierlichkeiten beginnen, sechs Tage lang soll im ganzen Land an die Ereignisse von damals erinnert werden. Höhepunkt ist eine Ansprache Erdogans im Parlament am frühen Sonntagmorgen um exakt 02.32 Uhr - jenem Moment, als die Putschisten vor einem Jahr die Volksvertretung bombardierten. Von den Minaretten von 90.000 Moscheen soll ein besonderer Gebetsruf erklingen, wie in der Putschnacht, als sich die Muezzins gegen die Umstürzler stellten. Die AKP organisiert "Demokratiewachen" wie damals, als Bürger Plätze besetzten, um sie nicht Putschisten zu überlassen.

Wer war für Putschversuch verantwortlich?
Für Erdogan steht außer Frage, wer für den Putsch verantwortlich war: der in den USA lebende Prediger Fethullah Gülen, bis zum offenen Zerwürfnis 2013 ein Weggefährte Erdogans. Gülen dementiert, dass er mit dem Umsturzversuch etwas zu tun hatte. Auch westliche Staaten legen Zweifel an den Tag. Für schwere Verstimmungen in Ankara sorgte der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), Bruno Kahl, als er dem "Spiegel" im Frühjahr sagte: "Die Türkei hat auf den verschiedensten Ebenen versucht, uns davon zu überzeugen. Das ist ihr aber bisher nicht gelungen." Tatsächlich sind bis heute viele Fragen offen - zum Beispiel die, ab wann die Behörden von den Putschplänen wussten.

50.000 Menschen inhaftiert
Erdogan sagte bereits in der Früh des 16. Juli, der Putschversuch sei "letztendlich ein Segen Gottes". Er verhängte den Ausnahmezustand, der ihn ermächtigt, per Dekret zu regieren. Sofort begannen die von Erdogan so bezeichneten Säuberungen, die bis heute andauern. Sie treffen nicht nur jene, die unmittelbar am Putschversuch beteiligt gewesen sein sollen. Auch beschränken sich die Maßnahmen nicht auf echte oder vermeintliche Gülen-Anhänger.

Längst wird auch gegen andere Regierungskritiker vorgegangen, in der Regel wegen Terrorvorwürfen, die häufig hochgradig fragwürdig wirken. Bis zu 150.000 Staatsbedienstete wurden seit dem Putschversuch suspendiert oder entlassen, mehr als 50.000 Menschen wurden in Untersuchungshaft gesperrt. Über 150 Journalisten sind in der Türkei inzwischen hinter Gittern, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Die Organisation Reporter ohne Grenzen spricht von einer "Hexenjagd". Unter den Inhaftierten Journalisten ist auch der deutsch-türkische Korrespondent Deniz Yücel.

Verfassungsreferendum brachte Präsidialsystem
Der Putschversuch ermöglichte es Erdogan nicht nur, Kritiker auszuschalten oder zumindest unter massiven Druck zu setzen. Er ebnete Erdogan auch den Weg dafür, per Verfassungsreferendum das von ihm so dringend angestrebte Präsidialsystem einzuführen, das seine Gegner als Schritt zu der von ihnen befürchteten Ein-Mann-Herrschaft ablehnen. Bisher konnte Erdogan auf seinem Weg nichts aufhalten. Die Putschisten, die ihn stürzen wollten, erreichten das genaue Gegenteil: Der Präsident sitzt so fest im Sattel wie nie zuvor.

Internationale Beziehungen leiden
Allerdings ist über ihn auch die Türkei gespalten wie nie zuvor. Zugleich werden die Beziehungen Ankaras zu Europa, darunter Österreich und Deutschland, immer schlechter. Beide Länder haben Auftritte türkischer Politiker - Erdogan selbst in Hamburg und der türkische Wirtschaftsminister in Österreich - vor Anhängern verboten.

Ein beispielloser Vorgang unter offiziell befreundeten Staaten. Erdogan fuhr der deutschen Kanzlerin und Gastgeberin des G20-Gipfels in Hamburg, Angela Merkel, dafür bei deren Klimaschutzplänen in die Parade. Auch die Niederlande untersagten einem türkischen Minister Auftritte. Das EU-Parlament empfahl vergangene Woche, die Beitrittsgespräche mit der Türkei formal auszusetzen. Österreich tritt dafür schon lange ein.

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