Oussama Atar (32)

So schlüpft IS-Mastermind ständig durch das Netz

Web
18.03.2017 08:18

Er soll hinter den Terroranschlägen von Paris und Brüssel stecken und ein Führungsmitglied der Terrormiliz Islamischer Staat sein - Oussama Ahmed Atar. Nun wurde bekannt: Der jetzt 32-jährige Belgier mit marokkanischen Wurzeln hätte schon vor zehn Jahren aus dem Verkehr gezogen werden können, er war im Irak sogar zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Doch man hat in ihm nicht den gefährlichen Terroristen erkannt, der er ist - und so hat Atar sich und andere weiter radikalisieren und die verheerenden Anschläge mit zahlreichen Toten planen können.

Andre Jacob, ehemaliger Chef der Anti-Terror-Einheit des belgischen Geheimdienstes, verriet jetzt erstmals öffentlich, wie Atar, der vor allem den französischen Behörden auch unter dem Namen "Abu Ahmad" bekannt ist, immer wieder durch das Netz geschlüpft ist.

Als er ihn das erste Mal getroffen habe, sei Atar 22 Jahre jung gewesen, ein "babygesichtiger Gefangener in Bagdad, weit entfernt von dem Monster, das er werden sollte", beschrieb er CNN. Am Höhepunkt des Irak-Krieges im Camp Cropper sei das gewesen, ein damals frisch eröffnetes Gefängnis, betrieben von den USA. Atar sei "enttäuscht" gewesen, in Haft zu sein, und er habe ihm und den Amerikanern immer wieder gesagt, dass er kein Terrorist oder feindlicher Kämpfer sei, sondern nur in den Irak gekommen sei, um den Irakern zu helfen.

USA mussten plötzlich "netter" zu Gefangenen sein
Heute bezeichnen die belgischen Behörden Atar als den "am meisten gesuchten" Verdächtigen in Belgien und Europa. Warum man Atar in den Vernehmungen damals nicht härter rangenommen hatte, obwohl er bei seiner Verhaftung Verletzungen aufgewiesen hatte, die, wie er selbst sagte, vom Hantieren mit Handgranaten stammten? Laut Jacob hieß es unter der Bush-Regierung nach dem Skandal um das irakische Abu-Ghraib-Gefängnis plötzlich, man solle "netter" zu den Gefangenen sein und sie nicht unter Druck setzen. "Die Regeln haben sich geändert", habe man ihm gesagt - obwohl zu der Zeit in Camp Cropper die berüchtigsten Verbrecher des Landes eingesessen seien - inklusive Saddam Hussein. Atar war zuvor in Abu Ghraib gewesen. Bei seiner Verhaftung hatte man Waffen bei ihm gefunden.

Irakisches Gericht verurteilte ihn zu lebenslanger Haft
Die irakischen Sicherheitskräfte hätten Atar seine Geschichte nie abgekauft und schon damals darauf bestanden, dass Atar ein abgebrühter Dschihadist und mit der Terrororganisation Al Kaida verbunden sei. Konkret habe er der Organisation "Al Fatah" angehört, ein Netzwerk, das von Syrien aus unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe im Irak operierte. Aufgrund dessen sei er von einem irakischen Gericht auch zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Allerdings wurde diese später auf zehn Jahre reduziert.

Für Jacob passte Atar damals nicht in das Profil eines Terroristen, wie er sagte - zumindest nicht, als Atar Belgien verlasse habe. Er sei ein intelligenter junger Mann gewesen, der in den Gesprächen mit Jacob glaubwürdig machen konnte, er habe mit der Reise in den Irak einen "Fehler" gemacht, aber eben keinen Ausweg gesehen gehabt. Jacobs habe Atar damals als "reintegrierbar" eingestuft. Die Entscheidung, ob man Atar freilasse, sei aber ohnehin den belgischen und amerikanischen Behörden vorbehalten gewesen.

Belgien versuchte über Jahre, Atar freizubekommen
Die Amerikaner hätten sich gegen die Freilassung eines Mannes ausgesprochen, der "möglicherweise ein Terrorist ist", die belgische Regierung habe aber über die nächsten sechs Jahre versucht, Atar freizubekommen, damit er nach Belgien zurückkehren könne, so CNN unter Berufung auf eine Quelle. Das belgische Außenamt wollte dem Sender zufolge keine Stellungnahme abgeben, da es derzeit eine parlamentarische Untersuchung gebe.

In den Jahren der Gefangenschaft habe Atar weitere Kontakte mit Dschihadisten geknüpft - unter anderem mit Terrorführer Abu Musab al-Zarqawi oder Abu Bakr al-Baghdadi, der später die Terrormiliz Islamischer Staat gründen sollte. Allerdings sei unklar, wie die beiden sich getroffen hätten.

"In diesen Gefängnissen wurde er zum Terroristen"
Atar sei in mehrere weitere Einrichtungen verlegt worden, unter anderem ins Camp Bucca und die Gefängnisse Al-Rusafa und Nasiriya, die unter irakischer Führung gestanden seien. "Nährboden für Radikalisierung", bezeichnete Jacob die Einrichtungen. "In seiner Zeit in diesen Gefängnissen wurde er zum Terroristen." Davon sei in Belgien allerdings wenig bekannt gewesen - zumindest offiziell. In Atars Akte, die etwa seinem Anwalt in Brüssel vorliegt, sei nur der illegale Grenzübertritt in den Irak vermerkt gewesen.

Im Jahr 2010 hieß es, dass Atar Krebs habe. Seine Familie - unterstützt von der belgischen Regierung sowie der Öffentlichkeit - verlangte daraufhin, ihm eine entsprechende Behandlung zu ermöglichen. Dies und dass Atar offiziell lediglich illegaler Grenzübertritt vorgeworfen wurde, könnte zu Atars Freilassung im August 2012 geführt haben. Tatsächlich hatte Atar laut seinem Anwalt lediglich eine Entzüngung im Darm. "Hätte es diese Forderungen von verschiedenen Organisationen nach der Freilassung nicht gegeben, wäre er noch im Gefängnis", sagt Jacob.

"Damals gab es keine Deradikalisierungsprogramme"
Im September 2012 sei Atar dann zurück in Brüssel gewesen. Er sei zwar von der Polizei und einem Richter über Stunden zu seinem Auslandsaufenthalt befragt worden, dann habe er aber gehen können. Laut seinem Anwalt habe es damals noch keine richtigen Deradikalisierungsprogramme gegeben. "Jetzt ist es anders", so Vincent Lurqin laut CNN, "wenn du jetzt von Syrien zurückkommst, gehst du durch einen Deradikalisierungsprozess. Aber zu dieser Zeit hat niemand solche Fragen gestellt."

Auch ist es aus heutiger Sicht undenkbar, wie es sein konnte, dass Atar, obwohl sein Name auf der Liste der belgischen Auslandskämpfer stand, seine Cousins, die El-Bakraoui-Brüder, die sich später bei den Anschlägen in Brüssel in die Luft sprengten, 20 Mal im Gefängnis besuchen konnte. Dabei hatte der Irak für die Freilassung laut CNN zwei Bedingungen gestellt: Belgien dürfe Atar keinen Pass mehr ausstellen und seine Bewegungen müssten überwacht werden.

Familie über das Internet weiter radikalisiert
Laut einer Quelle, die mit der parlamentarischen Untersuchung vertraut ist, wurde Atar allerdings ein Pass gewährt. Mit diesem sei Atar im Jahr 2013 auch nach Tunesien gereist, wo er verhaftet und wegen seines Aufenthalts in Abu Ghraib ausgewiesen worden sei. Daraufhin sei er in die Türkei. Danach habe sich seine Spur verloren, es gilt aber als erwiesen, dass er sich dem Islamischen Staat anschloss und schnell in die Führungsriege des IS aufstieg.

Aus dem Ausland - vermutlich aus Syrien - habe Atar dann via Internet eine Art "Familien-Terror-Netzwerk" aufgebaut und so unter anderem seine Cousins, die El-Bakraoui-Brüder, und einen weiteren Angreifer dazu gebracht, sich am Flughafen Zaventem sowie in einer U-Bahn-Station in die Luft zu sprengen und über 30 Menschen mit in den Tod zu reißen. Sein Bruder Yaseen wurde fünf Tage nach den Anschlägen wegen Terrorverdachts festgenommen und wartet in einem belgischen Gefängnis auf seinen Prozess.

"Flüchtlinge" enttarnten Terror-Drahtzieher
"Hier radikalisierte Menschen kennen ihn als wichtige Person - wichtiger als Abdel Hamid Abaoud (einer der Köpfe hinter den Paris-Anschlägen, Anm.)", so eine Quelle zu CNN. So sollen auch die Anschläge von Paris auf sein Konto gehen, bei denen 130 Menschen getötet wurden. Zudem soll er zwei vergangenes Jahr in Österreich festgenommene Dschihadisten beauftragt haben, einen weiteren Anschlag in Paris zu begehen.

Der Algerier Adel H. und der Pakistaner Muhammad U. waren in einem Flüchtlingslager in Salzburg gefasst worden. Sie sollen gemeinsam mit zwei der späteren Paris-Attentäter - Ahmad al-Mohammed und Mohammad al-Mahmoud - als Flüchtlinge getarnt über Griechenland in die EU eingereist sein. Im Gegensatz zu den spätere festgenommen. Ende November - und damit erst nach den Anschlägen - erreichten sie Österreich und identifizierten Atar als jenen Mann, der sie angeworben hatte.

"Er war in persönlichem Kontakt mit seiner Familie"
Was noch erschreckender ist: Obwohl Atar seit den Anschlägen von Paris im November 2015 und jenen in Brüssel im März 2016 weltweit gesucht wird und seine verbleibenden Familienmitglieder überwacht werden, hat er ihnen im August, vier Monate nach den Anschlägen von Brüssel, einen Besuch abgestattet. "Er war in direktem Kontakt mit seiner Familie. Er hat sie getroffen", so die Quelle laut CNN. Man habe ihn dann in Laeken, einem Stadtteil im Norden der Stadt, vermutet und Häuser durchsucht, ihn aber nicht gefunden. Dies könnte allerdings auch daran gelegen haben, dass die laufende Operation zu früh an die Medien durchgesickert sei - ein weiterer in einer langen Reihe an Fehlern.

Was Atar in Belgien wollte und wo er seitdem ist, weiß man nicht - aber die Behörden befürchten dem Bericht zufolge das Schlimmste. "Der IS wurde nicht jemanden wie Atar schicken, um Anschläge zu begehen, außer er wollte es selbst."

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