"Krone"-Analyse

Wie König Fußball sogar die Politik beeinflusst

Ausland
05.06.2016 10:20

Wenn 22 schwitzende Männer einem Ball nachlaufen, hat das mit Politik wenig zu tun. Doch auf ihren Trikots sind Staatswappen. Zudem werden sie von schreienden Fans beobachtet, die sich phantasievoll in Nationalfarben kleiden. Durch die EURO 2016 werden 24 Länder sowohl emotional verbunden als auch nationalstaatlich getrennt. Eine Analyse von Politikwissenschaftler Peter Filzmaier.

Veranstalter Frankreich läuft dabei Gefahr, am Ende der große Verlierer zu sein. Für die "Grande Nation" geht es vor der zur Schlacht werdenden Präsidentschaftswahl 2017 - François Hollande, Nicolas Sarkozy und Marine Le Pen werden den schmutzigsten Wahlkampf der Geschichte führen - um die letzte Chance eines Bildes der Einigkeit. 1998 und 2000 standen Spieler von Zinédine Zidane bis Lilian Thuram als Welt- und Europameister mit ihren Wurzeln in Algerien bzw. Guadeloupe für die harmonische Vielfalt des Landes.

Die heutige Wirklichkeit sieht anders aus. Éric Cantona, als schwieriges Genie bei Manchester United zur Legionärslegende geworden, führt die Ausbootung der Stürmerstars Karim Benzema (Real Madrid) und Hatem Ben Arfa (OGC Nizza) auf deren nordafrikanische Herkunft zurück. Seitens des Sportministers kam als Konter, das wäre "dumm" und "armselig".

Der in Sex- und Erpressungsaffären verwickelte Benzema legte mit dem Vorwurf des Kniefalls vor der Front National Le Pens, einer für ihn rechtsextremen Partei, nach. Die französische Nation ist sowohl politisch heillos zerstritten als auch fußballerisch mitten in der Rassismusdebatte.

Spanien: "Der Mehrheit ist es egal"
In Spanien wird es noch weniger gelingen, die nationale Spaltung zu vergessen. Die Regierungsbildung nach den Wahlen im Dezember 2015 ist kläglich gescheitert, am 26. Juni folgen Neuwahlen. Das Mehrheitszünglein an der Waage sind nationalistische Parteien, die eine Abspaltung ihrer Region vom Mutterland fordern. Insbesondere in Katalonien, der Heimat des großen FC Barcelona.

Oriol Serra, Journalist beim Fernsehsender TV3, beschreibt die Stimmung in seiner Heimatstadt: "Bei uns ist es der Mehrheit egal, ob Spanien gewinnt. Eine ganze Menge Leute ärgert sich, nur wenige freuen sich." Das verblüfft. Der Titelverteidiger löste einst als zugleich Weltmeister Jubelstürme aus. Serra hat auch dafür eine Erklärung: "Damals bestand ja die Mannschaft fast ausschließlich aus den Spielern von Barça!". Wenn gefühlt zu viele Spieler aus Madrider Vereinen mitkicken, hat offenbar der Nationalstolz Sendepause.

Deutschland und seine (Sommer-)Märchen
In Deutschland gibt es einen unheimlichen "Doppelpass von Fußball und Politik". So nannte es Buchautor Norbert Seitz. Das Wunder von Bern begründete 1954 nach dem Nazi- und Kriegstrauma ein neues Selbstbewusstsein. Nach dem entscheidenden Tor Helmut Rahns hieß es: "Wir sind wieder wer!" Die Aufbruchsstimmung der frühen 1970er-Jahre verlief genauso Hand in Hand mit den Fußballerfolgen von Beckenbauer und Müller.

Als man - nach 1974 zum dritten Mal - 1990 den WM-Titel feierte, geschah das gar fast zeitgleich mit der Wiedervereinigung von BRD und DDR. Angela Merkel wiederum erlebte als neue Kanzlerin 2006 ein im Veranstalterland inszeniertes Sommermärchen. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht und im deutschen Wirtschaftshoch wurde man 2014 nochmals Weltmeister. So gesehen ist die Euro 2016 eine Wahrsagung, ob Merkel und Deutschland am absteigenden Ast sind oder nicht.

Fußball-Siege gegen Minderwertigkeitsgefühle
Neun Teilnehmerländer der Euro waren übrigens vor ein paar Jahrzehnten gar keine Demokratien. Drei davon - Kroatien, Slowakei und Ukraine - nicht einmal Staaten. Für diese ist Fußball mehr als ein internationaler Wettbewerb im Balltreten. Sind sie erfolgreich, begründet das ihre eigenständige Identität.

Als etwa die Slowakei 2010 ins WM-Achtelfinale einzog, wurde vieles besiegt: Der sich seit den Zeiten der CSSR überlegen fühlende Bruder Tschechien, die Vorurteile gegenüber einem angeblich rückständigen Land sowie das Empfinden der Minderwertigkeit in der Europäischen Union und Eurozone. Marek Hamík, Fußballer des Jahres in Serie, symbolisiert als Star des SSC Napoli in doppelter Hinsicht Staat und Stadt, die sich benachteiligt sehen.

Österreich stärkt sein Selbstvertrauen
Für Österreich liegt die statistische Wahrscheinlichkeit, dass wir Europameister werden, bei zwei Prozent. Doch ein Kleinstaat - nach der Bevölkerungszahl Nummer 94 in der Welt - wird nicht durch seine wirtschaftliche Potenz beeindrucken. Zum Glück noch weniger mit militärischer Kraft. Da bleibt fast nur der Sport. Skifahren freilich wird in höchstens fünf bis sieben Ländern professionell betrieben und ist sonst egal. Fußball wird überall gespielt. Also bestimmen Tore unseren Selbstwert im In- und Ausland.

PS: In einer Hinsicht ist es allerdings völlig falsch, die politische Bedeutung der EURO auf Nationalstaaten zu beschränken. Glaubt irgendwer ernsthaft, dass wir ohne die Migrantenkinder Alaba, Dragovic, Junuzovic & Co. den Funken einer Chance hätten? Fußball ist ein Positivbeispiel für Zuwanderung und Integration.

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