Bank an Bank

“Krone”-Redakteur verbringt Nacht mit Obdachlosen

Österreich
16.11.2013 17:06
Der Wiener Stadtpark als Wohnung, ein Schlafsack als Bett, tiefe Einblicke in verletzte Seelen. "Krone"-Redakteur Oliver Papacek schaute eine Nacht lang bei den Menschen am Rande der Gesellschaft vorbei, um einen leisen Eindruck von dem zu bekommen, was sie durchmachen. Die Blicke der Passanten variieren zwischen Bedauern, Furcht und Abscheu.

"Schlafen Sie schon, oder haben S' nur gedöst?" Vorsichtig nähert sich Susanne Peter von der Caritas ihrem "Klienten". Unter der grünen Plastikplane regt sich was, und langsam kommt Gottfried in seiner ganzen Stattlichkeit zum Vorschein. Müde streicht sich der Mittsechziger über seinen Bart und setzt sich auf. "Wir werden Ihnen eine neue Jacke besorgen", verspricht die erfahrene Streetworkerin, "und wegen der Wohnung tut sich auch was." Gottfried hat sich an das Leben draußen schon gewöhnt.

Er war nur ein paar Tage weg, eine Art Weiterbildungswoche. Als er zurückkam, war die Ehefrau fort. Samt der zwei Buben, damals zwei und drei Jahre alt. Die Nachricht, die sein Leben für immer verändern sollte, lag auf ein Blatt Papier gekritzelt auf dem Küchentisch. Fünf Jahre Ehe, zwei Kinder, ein Zettel. Das war im Jahr 1980. Gottfried, der gelernte Elektromechaniker, hat es nicht verstanden. Damals nicht und heute nicht. Auch nicht, was dann kam. Unterhaltszahlungen, Jobverlust, Krankheiten, psychische Krisen - Sachwalterschaft. Der stattliche Mann mit der sensiblen Seele - er war für immer gebrochen. Denn die Frage nach einem geregelten Leben stellt sich nach so vielen, ja schier endlosen Jahren auf der Straße kaum noch.

Im Schlafsack unter freiem Himmel - mitten im November
Schon vor Stunden brach die Finsternis über Wien herein, doch für Mitte November ist es eine recht laue Nacht. Die braun gefärbten Blätter wiegen sich sanft im Herbstwind, ab und an fallen welche zu Boden. "Hoffentlich bleibt es trocken. Gestern hat es ja geschüttet wie aus Schaffeln", erzählt Herbert, der "wieder einmal" auf der Straße lebt. Job weg, Wohnung weg. "Gestern hab' ich nicht draußen bleiben können. Ich war in der Gruft (Anm.: Caritas-Einrichtung für Unterstandslose). Du musst aber früh dort sein, damit du einen gescheiten Platz kriegst."

Herbert kann mittlerweile mit Obdachlosigkeit nach eigenen Angaben "gut umgehen". Und gibt wertvolle Tipps: "Da hast eine Decke, die musst du unter den Schlafsack legen, sonst kannst dich morgen nicht mehr bewegen." Der 52-Jährige hilft beim Aufschlagen des Nachtlagers. Gespeist wurde bereits in der Suppenküche, der Gruft oder anderen karitativen Einrichtungen.

Die Nacht verläuft ruhig, die von der Caritas zur Verfügung gestellten Schlafsäcke halten Temperaturen bis –24 Grad locker stand. "Zieh lieber die Jacke aus, sonst schwitzt dich zum Trottel." Man bekommt irgendwie das Gefühl, dass Herbert in der Gruppe das Sagen hat. Doch tatsächlich ist jeder auf sich allein gestellt. Man akzeptiert sich, man respektiert sich. Zumindest hier im Stadtpark. Die Unsicherheit verfliegt, es ist friedlich. Die Fahrbahn der Ringstraße liegt Luftlinie höchsten 25 Meter entfernt, doch kurz nach Mitternacht ist es – zumindest unter der Woche – beinahe still.

Schlafen auf der Parkbank ist ein Verstoß gegen das Gesetz
Wir schlafen Bank an Bank, teilen uns die Reihe mit zwei Slowaken. Und wir verstoßen gegen das Gesetz. Genauer gesagt gegen die Kampierverordnung aus dem Jahr 1985. Darauf berief sich auch die Polizei vor wenigen Wochen, als sie knapp 30 Obdachlose aus dem Wiener Stadtpark jagte und ihre Habseligkeiten entsorgen ließ. Für alteingesessene Park-Bewohner wie Herbert eine völlig überraschende Aktion. "Wir hatten mit der Polizei eigentlich nie Probleme. Warum auch? Wir betteln nicht, wir randalieren nicht, wir saufen nicht."

"Die Griechin" kommt vorbei. Vasiliki ist 45 und stammt aus einer Kleinstadt in der Nähe von Athen. Seit 13 Jahren ist die Weltenbummlerin unterwegs. Seit 2010 in Österreich. Für die Restauratorin und Malerin ist es eine der letzten Nächte im Wiener Stadtpark. Ihren Job ist sie seit einigen Monaten los, mit dem letzten bisschen Geld hat sich die Künstlerin ein Ticket besorgt. Am Mittwoch flog sie zurück in die Heimat.

Traurige Sammlung an Biografien
Der Stadtpark ist eine traurige Sammlung an Biografien. Nur einen Steinwurf von unserem Nachtlager entfernt führt ein Stiegenabgang hinunter zum Wienfluss. Direkt am Wasser hat sich eine Handvoll Obdachlose zusammengerottet. Ein Friedhofslicht sorgt für düstere Stimmung. Zwei Frauen liegen sich in Tränen aufgelöst in den Armen. Roman, ein 42-jähriger Tscheche, der angeblich sieben Sprachen spricht, erzählt: "Vorige Woche ist ja einer gestorben. Der war zehn Jahre mit der Frau da zusammen." Woran der Mann bereits im Alter von 36 Jahren plötzlich verstorben ist, bleibt rätselhaft. Fremdverschulden wurde ausgeschlossen, das Ergebnis der Obduktion lag noch nicht vor. Die Freunde im Park sprechen von einer Krebserkrankung, es könnten aber auch Drogen im Spiel gewesen sein.

Roman, das "Sprachenwunder", sucht jedenfalls einen Job. Genauso wie die allermeisten Park-Bewohner. Denn Obdachlosigkeit ist keine Frage des Lebensstils. Sie träumen von einem besseren Leben, doch genau dieses hat ihnen übel mitgespielt. Mal war es Schicksal, mal war es selbst verschuldet. Jetzt sind sie auf fremde Hilfe angewiesen. Auf Organisationen wie die Caritas, auf soziale Einrichtungen der Stadt, auf Menschen wie Susanne Peter und die anderen Streetworker. "Der Stadtpark ist ein Schaufenster des Sozialstaats", merkt "die Griechin" an und verzieht sich in ihr Nachtlager hinter einem Gebüsch.

Bäckerei bringt mitten in der Nacht Essen vorbei
Urplötzlich kurze Aufregung: Eine Bäckerei hat mitten in der Nacht Essen gebracht. Plötzlich standen die Kartons da – belegte Brötchen, Mehlspeisen. Viel zu viel für uns vier, fünf "Hanseln". "Das soll die Gruft morgen holen, wir würden drei Wochen davon essen", sagt Herbert und kriecht zurück in seinen warmen Schlafsack. Ohne auch nur ein Brötchen verspeist zu haben. Langsam rollt eine Streife durch den Park. Vier Männer liegen wie aufgefädelt in ihren warmen Schlafsäcken auf den Bänken. In dieser Nacht haben die Polizisten die Gesetzesübertretung "übersehen". Doch morgen könnte es anders sein.

Langsam geht die Sonne auf, die Biwaks werden eingepackt und im Dickicht versteckt. Ein neuer Tag des Wartens und der Hoffnung beginnt.

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