Polit-Skandal

Schweiz ignorierte Tausende Asylanträge

Ausland
04.09.2011 15:24
Einige Tausend Asylgesuche von Irakern sind in der Schweiz jahrelang "schubladisiert" und somit nicht behandelt worden. Das juristisch umstrittene Vorgehen stößt auf harsche Kritik, ins Visier geraten auch zwei ehemalige Justizminister. Doch die beiden wollen die Vorgänge angeblich vergessen oder gar nicht erst mitbekommen haben.

Der durch die amtierende sozialdemokratische Justizministerin Simonetta Sommaruga aufgedeckte Fall klingt unglaublich: Bis zu 10.000 Asylgesuche, die offenbar zwischen 2006 und 2008 in den Schweizer Botschaften in Syrien und Ägypten eingingen, sind nicht behandelt, sondern schubladisiert worden. Laut Sommaruga erfolgten die Anträge meist schriftlich, in rudimentärer Form.

Als einziges Land in Europa kennt die Schweiz immer noch das sogenannte "Botschaftsasyl". Dieses erlaubt Asylwerbern, ihr Gesuch nicht erst an der Landesgrenze einzureichen, sondern bereits im Ausland auf einer Schweizer Botschaft. Sollte der Antragsteller in die Schweiz einreisen dürfen, würde dann das eigentliche Asylverfahren durchgeführt.

Anweisung lautete, nichts mehr nach Bern weiterzuleiten
Schweizer Medien berichten nun, die Botschaften seien damals angewiesen worden, die Gesuche nicht mehr wie üblich nach Bern weiterzuleiten, sondern die Flüchtlinge an das UNHCR, das Flüchtlingshochkommissariat der UNO, zu verweisen. Der regionale UNHCR-Direktor habe angeblich signalisiert, dass die Flüchtlinge in Lagern aufgenommen würden. Susin Park, Leiterin des Schweizer UNHCR-Büros in Genf, sagte jedoch auf Anfrage der "Neuen Zürcher Zeitung": "Von einer Abmachung zwischen dem UNHCR und der Schweiz wissen wir nichts."

Die entsprechende womöglich gesetzeswidrige Weisung wurde laut den Medien unter der Ägide des damaligen Justizministers Christoph Blocher von der national-konservativen Schweizerischen Volkspartei erlassen.

Verantwortlicher hat angeblich Erinnerungslücken
Am Freitag hatte der Ende 2007 aus der Regierung abgewählte Blocher gegenüber der "Tagesschau" des Schweizer Fernsehens erklärt, er könne sich nicht mehr genau an den Fall erinnern, aber es habe sich nicht um formelle Asylanträge gehandelt. Zu den Tausenden Irakern, die in den Botschaften um Einlass gebeten hatten, sagte er: "Das war eine unhaltbare Situation." Wären die Gesuche behandelt und die Asylwerber ins Land gelassen worden, "hätten wir am Schluss vielleicht 100.000 Iraker in der Schweiz gehabt".

Völkerrechtsexpertin Martina Caroni widersprach der Integrationsfigur der nationalkonservativen SVP. "Die Anträge waren Asylgesuche", hielt sie gegenüber der "Tagesschau" fest. "Das schweizerische Asylgesetz schreibt vor, dass jede Äußerung, mit der eine Person um Schutz sucht, ein Asylgesuch ist."

In seiner Erklärung verwies Blocher auch auf einen Absatz im Asylgesetz, der besagt, eine Asylanhörung müsse nicht erfolgen, wenn die Betroffenen andernorts Schutz fänden, was Caroni nicht gelten ließ. Der springende Punkt bei diesem Absatz sei, dass der Gesamtbundesrat über die Anwendung entscheide und danach die Bundesversammlung, also beide Parlamentskammern, informiere.

Nachfolgerin will von nichts gewusst haben
In den Fokus gerät auch Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf von der mitte-rechts-positionierten Bürgerlich-Demokratischen Partei. Sie übernahm nach Blochers Abwahl aus der Regierung das Justizministerium. Nach Angaben der "SonntagsZeitung" berichten mehrere Quellen aus dem zuständigen Bundesamt für Migration, Widmer-Schlumpf sei über das rechtlich umstrittene Ignorieren der Asylgesuche informiert worden und spätestens in der zweiten Hälfte 2009 vom damaligen Interimsdirektor des BFM über die unbearbeiteten Gesuche in Kenntnis gesetzt worden.

Details und schriftliche Belege dazu konnte die "SonntagsZeitung" nach eigenen Angaben nicht finden. Die Brisanz ortet das Blatt darin, dass sich Widmer-Schlumpf nach Bekanntmachung des Falls durch ihre Nachfolgerin, die Sozialdemokratin Sommaruga, "überaus deutlich" von der Affäre distanziert habe.

Die heutige Finanzministerin präzisierte im Gespräch mit der "SonntagsZeitung", sie sei in der fraglichen Periode "über die generellen Probleme und den Stau von Asylgesuchen auf verschiedenen Schweizer Botschaften im Ausland informiert worden". Dabei sei aber in erster Linie die Situation in der Botschaft in Sri Lanka thematisiert worden.

Erst als das UNHCR Druck machte, durften 100 einreisen
Über Probleme mit dem "Botschaftsasyl" berichtet auch die "NZZ am Sonntag". Im Sog des Bürgerkriegs in Libyen stellten mehrere Hundert Personen einen Asylantrag in der Schweizer Botschaft in Tunis. Der Unterschied zu Syrien und Ägypten: Das UNHCR machte mehrere Male Druck, und das Migrationsamt ließ schließlich mit einem "rechtlich umstrittenen Entscheid" rund 100 Asylwerber in die Schweiz einreisen.

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