Norwegen-Anschläge

Premier: “Paradies wurde in eine Hölle verwandelt”

Ausland
23.07.2011 10:56
Mit Trauer und Bestürzung hat Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Samstagvormittag in Oslo die Anschläge mit mindestens 92 Toten auf der Insel Utöya und in der City der Hauptstadt als "nationale Tragödie" bezeichnet. "Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir in unserem Land keine schlimmere Katastrophe erlebt." Die Tat sei "unbegreiflich", so Stoltenberg, stark bewegt auch von seinen persönlichen Erinnerungen an das jährliche Sommerlager für Jugendliche auf der Insel Utöya: "Utöya war das Paradies meiner Jugend. Gestern wurde es in eine Hölle verwandelt."

Der Regierungschef bestätigte, dass er am Samstag eigentlich plangemäß das Sommerlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF hatte besuchen wollen, wo ein Attentäter in Polizeiuniform am späten Freitagnachmittag mehr als 80 Menschen getötet hatte. Bei einer Bombenexplosion zwei Stunden zuvor im Osloer Regierungsviertel, die ebenfalls einem festgenommenen 32-Jährigen zugeschrieben wird, starben mindestens sieben Menschen.

Anschläge das Werk eines Einzelnen?
Nach wie vor unklar ist, ob der Mann ein Einzeltäter war. "Die Polizei sagt, es sei eine Person gewesen, und das gibt uns eine Grundlage, in dieser Richtung weiter zu ermitteln", sagte Stoltenberg am Vormittag. Ganz ausschließen, dass weitere Menschen in die Anschläge verstrickt sind, wollte der Ministerpräsident aber offenbar nicht: Es sei nun sehr wichtig, "die zu finden, die hinter diesen Anschlägen stecken, sie dem Justizsystem zuführen und verurteilen". Die Ermittlungen seien erst dann ein Erfolg, wenn man sagen könne, wer hinter diesen grauenvollen Anschlägen steckt. Noch sei es "zu früh, um die Motive und Gründe hinter den Angriffen zu kommentieren".

"Wir als Politiker dürfen heute noch nicht spekulieren, was oder wer hinter diesen Anschlägen steckt. Es ist eine Person, die festgenommen worden ist, aber wir haben noch keine Schlüsse gezogen, ob mehrere Personen dahinter stecken. Wir geben der Polizei die Möglichkeit, die Ermittlungen auszuführen", strich Justizminister Knut Storberget die große Verantwortung der Polizei hervor, die diese Ermittlungen nun zu führen habe.

Problem mit Rechtsradikalen
Angesprochen auf den vermutlich rechtsradikalen Hintergrund des Attentäters, räumte Stoltenberg ein, in Norwegen ein Problem mit Rechtsradikalen zu haben. "Aber verglichen mit anderen Ländern würde ich nicht sagen, dass wir ein großes Problem mit ihnen haben", sagte Stoltenberg weiter. "Wir haben einige Gruppen, wir sind ihnen nachgegangen und unsere Polizei weiß, dass wir einige rechte Gruppen haben."

Persönliche Erinnerungen an Sommerlager auf Insel Utöya
Stoltenberg verwies auf "die Angst, das Blut und den Tod", mit denen die jugendlichen Teilnehmer des Sommercamps der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF auf Utöya konfrontiert gewesen seien. "Das ist ein Alptraum", sagte der Ministerpräsident, der auch Chef der sozialdemokratischen Arbeiterpartei ist. Ihn schmerze der Angriff umso mehr, als er Utöya seit 1974 jedes Jahr besucht habe.

"Ich habe dort Freude, Engagement und Sicherheit erfahren", so Stoltenberg. Nun habe sich in dem Sommerlager "eine brutale Gewalt ereignet und ein Paradies der Jugend wurde in wenigen Stunden zur Hölle". Er habe mehrere Opfer persönlich gekannt. Im Tagesverlauf wolle er Überlebende des Massakers und deren Angehörige besuchen. Die Flaggen im Land würden nun auf Halbmast gesetzt.

"Niemand wird uns mit Bomben zum Schweigen bringen"
Der Regierungschef will nach eigenen Worten weiter auf die freiheitlichen Werte seines Landes setzen. Norwegen sei "eine offene Gesellschaft, es ist eine sichere Gesellschaft, wo man eine politische Debatte führen kann, ohne bedroht zu werden". Die Anschläge würden Norwegen aber verändern, und die Regierung werde nun reagieren, damit diese Werte nicht in Gefahr gerieten.

Noch in der Nacht auf Samstag hatte der Ministerpräsident Verletzte besucht. Stoltenberg sagte im Ulleval-Krankenhaus der Hauptstadt zu den Anschlägen: "Sie werden Norwegen verändern." Die Antwort des Landes müssten "noch mehr Demokratie und Offenheit" sein. Auch zuvor hatte er bei einer Pressekonferenz gemeint: "Die Antwort auf Gewalt ist mehr Demokratie, mehr Menschlichkeit, aber nicht mehr Naivität."

Norwegen sei eine "kleine", aber "stolze" Nation. "Niemand wird uns mit Bomben zum Schweigen bringen. Niemand wird uns mit Kugeln zum Schweigen bringen", ergänzte Stoltenberg, der sich zum Zeitpunkt der Bombenexplosion im Osloer Regierungsviertel nicht in seinem Büro aufgehalten hatte.

Bürgermeister: "Werden bessere Gesellschaft entwickeln"
Oslos Bürgermeister Fabian Stang stellte seine Stadt nach den Anschlägen in eine Reihe mit London, New York und anderen Terrorschauplätzen. "Es ist schrecklich, dass wir nun auch eine solche Situation haben", sagte Stang am Samstag der Nachrichtenagentur dpa. "Es wird immer wichtiger, dass wir zusammenhalten."

Der Respekt vor den Toten gebiete es nun, "dass wir diese Stadt noch sicherer und offener und den Umgang miteinander noch respektvoller gestalten". Norwegen werde diese schreckliche Situation dazu nutzen, eine bessere Gesellschaft zu entwickeln. Es sei wichtig, dass alle Menschen verschiedener Hautfarbe und Religionen einander respektierten.

König: "Wir müssen einander stützen"
Norwegens König Harald V. bezeichnete den Angriff auf das Jugendlager als "unfassbare Tragödie". Der Regent sagte am Samstagmorgen in Oslo: "Es ist wichtig, dass wir zusammenstehen und einander stützen." Die Gedanken würden jetzt an alle Betroffenen und ihre Angehörigen gehen.

Kirche erschüttert über "sinnlose Gewalt
Helga Haugland Byfuglien, oberste Bischöfin der evangelisch-lutherischen Kirche, der mehr als 80 Prozent der Norweger angehören, sprach den Angehörigen der Ermordeten und allen Verletzten ihre tiefe Anteilnahme aus. Die Gotteshäuser stünden offen für alle Menschen, die Gemeinschaft und Trost suchten.

Byfuglien zeigte sich "schockiert" über die Anschläge, insbesondere auf das Sommerlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation Norwegens auf Utöya. Die jungen Leute hätten dort Gemeinschaft und Freude gesucht. Dass Jugendliche von einem Attentäter erschossen werden an einem Ort, an dem sie ihr Demokratieverständnis entwickeln, sei beinahe unbegreiflich, betonte die Bischöfin. Die Attentate erinnerten jeden Menschen an seine Verletzlichkeit: "Was passiert ist, wird unsere Zukunft verändern."

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