Behördenskandal

“Persilschein” statt Prüfung – Schweiz fährt AKW herunter

Ausland
04.07.2011 09:32
Die Schweiz steht nach dem Beschluss des Atomausstiegs bis zum Jahr 2034 vor einem langen Kampf um die zukünftige Energieversorgung. An dessen Beginn könnte jetzt ein Skandal stehen: Schweizer Zeitungen berichteten am Wochenende von einer unplanmäßigen Abschaltung des Atomkraftwerks Mühleberg wegen eines "alarmierenden" Gutachtens der renommierten Zürcher Technik-Uni ETH. Demzufolge hat die Schweizer Nuklearsicherheitsbehörde AKW-Betreibern mehrmals Persilscheine für ihre Meiler ausgestellt - unter anderem auch nach Fukushima.

Die Schweiz produziert derzeit noch 40 Prozent ihres Stroms in fünf Atomkraftwerken, will aber gemäß eines nach der Katastrophe von Fukushima gefällten Regierungsbeschlusses langfristig aus der Atomkraft aussteigen. Der derzeitige Plan: Nach Laufzeiten von 50 Jahren soll 2019 der erste Meiler vom Netz gehen, 2035 der letzte.

ETH-Gutachten: Gefahr durch Flut
Die überraschende Abschaltung von Mühleberg, das schon vor ein paar Tagen vom Netz genommen wurde, sorgt nun für Misstrauen und allerlei Spekulationen. Die Abschaltung erfolgte just fünf Wochen vor der ordentlichen Jahresrevision und wenige Tage bevor die AKW-Betreiber einen Prüfbericht an das Ensi, das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat, abliefern mussten. Darin sollen sie aufzeigen, wie sie ein extremes Hochwasser, wie es alle 10.000 Jahre vorkommt, bewältigen könnten. Auslöser dafür war die Atomkatastrophe in Fukushima. Das Szenario macht auch Sinn: Mühleberg liegt nur rund 1,5 Kilometer unterhalb einer Staumauer.

Parallel zur Ensi-Prüfung (durch die Betreiber) starteten Sachverständige der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ein Gutachten. Dieses bemängelte nun, eine Wasserflut würde Schlamm, Trümmer und Schwemmgut mitreißen, die die Kühlwasser-Leitungen verstopfen würden. Ensi ließ Mühleberg, das nach der Jahresrevision wieder im September ans Netz gehen sollte, daraufhin herunterfahren. Nach der Abschaltung wurde dem Betreiber BKW, Bernische Kraftwerke, aufgetragen, die Mängel zu beheben.

Inspektorat stellte Betreibern "Persilschein" aus
Doch das ist eigentlich schon viel zu spät. Im Dezember 2009 geschah nämlich im französischen AKW Cruas 4 genau das, wovor der ETH-Bericht warnt: eine Extremflut, die das Atomkraftwerk in Gefahr brachte. Dabei schreibt das Schweizer Recht vor, dass das Ensi bei einem gravierenden Vorfall im Ausland die Situation für die Schweizer Meiler analysieren muss, berichtet die Schweizer "SonntagsZeitung". Das wurde auch getan, nur statt einer genauen Prüfung gab es einen "Persilschein" für die Atomkraftwerke. In einem Forschungsbericht vom Jänner 2010 schrieb die Aufsichtsbehörde, "die Auslegung der Kernkraftwerke in der Schweiz deckt derartige Störfallszenarien ab". Auch nach Fukushima hat die Behörde eine Verstopfungsgefahr weiterhin "praktisch ausgeschlossen". Das ETH-Gutachten habe aber nun das Gegenteil bewiesen.

Weiters heißt es, Ensi habe nach Fukushima auch unterlassen, technische Probleme der japanischen Anlagen zu analysieren, um daraus Risikifoaktoren für seine eigenen Kraftwerke auszumachen.

Aus dem atomfeindlichen linken Lager forderte am Sonntag Nationalrat und Energieexperte Roger Nordmann eine Reform des Ensi. Die Atombehörde komme ihrer Aufsichtspflicht nicht mehr nach. "Die Ensi-Verantwortlichen müssen durch neue, kritische Experten ersetzt werden", so Nordmann zur "SonntagsZeitung".

Schweizer Regierung ringt mit der Atombranche
Vonseiten der Schweizer Regierungsmitglieder gab es am Sonntag keine konkreten Aussagen. Dort dürfte man sich derzeit mit ganz anderen Schwierigkeiten herumplagen: Die "NZZ am Sonntag" berichtet vom einem geheimen Treffen der Atomkraftwerksbetreiber mit Energie- und Umweltministerin Doris Leuthard. Die Spitzen der Atombranche hätten dort ihrem Ärger über den Atomausstieg Luft gemacht. Und: Die Stromkonzerne lehnen die Verantwortung für die Energieversorgung unter diesen Vorzeichen ab.

100 Milliarden Schweizer Franken (84,1 Milliarden Euro) seien bis 2035 nötig für den Umbau der Energieversorgung von großen Kraftwerken hin zu einer dezentralen Versorgung mit vielen kleinen Anlagen. Ein Viertel davon könne die Branche beitragen, doch woher wolle die Regierung das restliche Geld nehmen, wollten die Unternehmen der NZZ zufolge wissen. Das Ganze habe in zwei Fragen gegipfelt: "Wird die Strombranche angesichts der dezentralen Versorgung vom heutigen Versorgungsauftrag entbunden?" Und sei der Bundesrat demzufolge bereit, "die Verantwortung für die sichere und volkswirtschaftlich tragbare Stromversorgung zu übernehmen"?

Konzerne wollen Haftung loswerden
Ein Sprecher des Energiekonzerns Alpiq sagte der Zeitung, bei der vom Bundesrat angestrebten dezentralen Stromversorgung stelle sich die Frage der Verantwortung für den heute "integralen Versorgungsauftrag" der Strombranche neu, ebenso wie die Frage der Haftung bei Ausfällen. Laut Gesetz ist die Energieversorgung derzeit Angelegenheit der Energiekonzerne.

Leuthard soll allerdings klargemacht haben, dass die Regierung die Verantwortung für die neue Energiepolitik übernehme - was dann aber bei Schweizer Parlamentariern und den Bürgern eher weniger gut ankommen dürfte. Aus ihrem Ministerium wollte sich offiziell niemand zum Inhalt des Treffens äußern, auch von den Stromkonzernen wurde nur bestätigt, dass es stattgefunden habe.

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