Bangen in Tokio

In der Megacity geht die Angst vor der Strahlung um

Ausland
15.03.2011 14:50
Viele Tage zeigten TV-Aufnahmen Japaner, die ruhig und gefasst auf die apokalyptisch anmutenden Katastrophen in ihrem Land reagierten. Doch jetzt ist auch den vielen Millionen Menschen in Tokio die Angst anzumerken: Denn während sie das Erdbeben vom Freitag vergleichsweise glimpflich überstanden haben und vom Tsunami verschont blieben, fürchten sie nun, dass Radioaktivität aus dem 250 Kilometer nördlich gelegenen, schwer beschädigten Atomkraftwerk in Fukushima die Hauptstadt erreichen könnte. Laut Experten wäre eine Evakuierung der Megacity "völlig unmöglich".

Tokio ist in den letzten Tagen bereits eine andere Stadt geworden. Die sonst geschäftige Metropole, in deren Großraum rund 35 Millionen Menschen leben, ist ungewöhnlich ruhig. Die Einwohner kleben an ihren Fernsehgeräten, und wer doch in die Innenstadt geht, kann auf Großbildleinwänden die Nachrichten verfolgen.

Nachdem jeden Tag neue Schreckensmeldungen kommen, kann sich niemand mehr in Sicherheit wähnen. Am Dienstag wurden bereits erhöhte Strahlenwerte gemessen. Die Belastung sei um das 22-fache höher als üblich, berichtete der Fernsehsender NHK. Was nun passieren wird, ist nicht abzuschätzen. Vieles hängt davon ab, ob der Wind eine stark radioaktive Wolke vom AKW Fukushima bis nach Tokio trägt. Laut den Behörden könne diesbezüglich jedoch keine genaue Vorhersage für die kommenden zwei bis drei Tage abgegeben werden.

Überlebensausrüstungen längst vergriffen
Die Tokioter wappnen sich seit Tagen für den Ernstfall, kaufen Wasser, haltbare Lebensmittel und Atemschutzmasken. In den Kaufhäusern sind die Überlebensausrüstungen längst ausverkauft. Mit Hamsterkäufen stellen sich die Hauptstadtbewohner darauf ein, längere Zeit in ihren Häusern bleiben zu müssen. "Ich decke mich mit Getränken, Reis, Snacks und Fleisch ein", erklärt Mariko Kawase. Die Nachrichten verfolge sie aufmerksam, sagt die 34-jährige Hausfrau, während sie zwischen fast leeren Regalen in einem Supermarkt Waren in ihren Korb füllt.

Viele Menschen verlassen die Hauptstadt
Inzwischen sind die bei Touristen besonders beliebten Plätze gespenstisch leer - wie 1995, nach dem Giftgas-Anschlag auf die Tokioter U-Bahn. Großer Andrang herrscht dagegen an den Ticketschaltern der Bahn: So wie es bereits viele Ausländer getan haben, versuchen zahlreiche Tokioter, aus der Stadt zu gelangen, in Richtung Süden zu fahren, möglichst weit weg. Am Bahnhof Shinagawa, von wo aus die Züge Richtung Süden wegfahren, warten Menschen dicht gedrängt auf den Bahnsteigen. An Kinder und Koffer geklammert, hoffen sie, der Megacity entfliehen zu können.

Kumiko Yoshida dagegen will bleiben - obwohl die Besitzerin eines Schönheitssalons derzeit kaum Kundinnen hat. Die 54-Jährige denkt nun auch an die Opfer des Bebens und des Tsunamis im Nordosten Japans. "Mir kommen die Tränen, ich will ihnen helfen", sagt sie. Beim Thema Radioaktivität fühlt sich Yoshida an die US-Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert: "Japan hat Atombomben erlebt, daher sind wir sensibel beim Thema Strahlung. Ich mache mir Sorgen um Japans Zukunft."

35 Millionen Menschen im Großraum Tokio
Im Großraum Tokio leben auf ungefähr 13.000 Quadratkilometern rund 35 Millionen Menschen, das sind etwa viermal so viele wie in Österreich und ein Viertel aller Menschen in Japan. Die Megacity umfasst neben dem Kernbereich Tokio mit rund neun Millionen Einwohnern die Millionenstädte Yokohama, Kawasaki, Chiba, Saitama und die Region Tama, in der vier Millionen Menschen leben, sowie mehrere weitere Städte mit Hunderttausenden Einwohnern. Allein die Tokioter U-Bahn transportiert acht Millionen Menschen - täglich.

"Evakuierung ist einfach nicht zu schaffen"
Eine Evakuierung von Tokio zum Schutz vor einer radioaktiven Verstrahlung ist nach Einschätzung eines deutschen Experten "völlig unmöglich": "In so kurzer Zeit so viele Menschen aus Tokio rauszuholen, ist undenkbar. Eine Evakuierung von solcher Dimension hat es nie zuvor irgendwo auf der Welt gegeben", sagte der Vorsitzende des Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge (DKKV), Gerold Reichenbach, am Dienstag. "Eine Metropole wie Tokio zu räumen, überfordert auch ein gut vorbereitetes Land. Denn man muss die Leute ja nicht nur rausbringen, man muss sie auch unterbringen, ihre elementarsten Bedürfnisse wie Wasser, Sanitäranlagen oder Unterkunft decken. Das ist mehr als eine Herkulesaufgabe, das ist in so kurzen Fristen einfach nicht zu schaffen", so Reichenbach.

Der DKKV-Vorsitzende weiter: "Wir haben es mit drei Katastrophen gleichzeitig zu tun, dem Erdbeben, dem Tsunami und dem Atomunglück. Das Land ist ohnehin total gestresst. Wenn die Wolke tatsächlich über Tokio runterkommen sollte -  dann fällt einem nichts mehr ein, man möchte es nicht zu Ende denken. Japan kann Tokio nur in eine strahlungsfreie Zone evakuieren, das heißt, es bleibt nur der Süden: Aber wo sollen dort Millionen Menschen aufgenommen werden?" Vor allem die Kranken könnten nicht in Sicherheit gebracht werden. "Man bräuchte viele Feldhospitäler und das entsprechende Personal – einfach undenkbar."

"Regierung vor extrem schwieriger Abwägung"
Die Wetterprognosen seien weiter sehr wichtig für das Geschehen in der Stadt. Die Gefahr steige, wenn der Wind die radioaktiven Teilchen nicht aufs Meer, sondern in Richtung Tokio wehe. Sollte es zu ersten Verstrahlungen kommen, müsse jeder einzelne Betroffene dekontaminiert werden, so Reichenbach. "Schon das ist eine logistische Herausforderung - und würde eine Evakuierung zusätzlich erschweren." Würden die Behörden die ersten Menschen wegbringen oder ausfliegen, wäre laut dem Experten zudem eine Massenpanik zu befürchten. "Die Regierung steht vor einer extrem schwierigen Abwägung."

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