Blutiger Aufstand

Bis zu 1.000 Tote in Libyen? ++ EU will Sanktionen

Ausland
23.02.2011 22:57
Die Zahl der Todesopfer bei den Unruhen in Libyen könnte laut italienischen Angaben inzwischen die Marke von 1.000 erreicht haben. Derartige Schätzungen seien nach Ansicht von Italiens Außenminister Franco Frattini als "glaubwürdig" einzustufen. Europa habe sich zudem auf einen "biblischen" Flüchtlingsstrom aus Libyen vorzubereiten, warnt Italien. Am Mittwochabend beschloss die EU dann, wegen des Mordens Sanktionen gegen Machthaber Muammar al-Gadafi und seine Schergen zu verhängen - sofern die Gewalt nicht sofort endet.

Auch der Weltsicherheitsrat und UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon forderten den libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi zum sofortigen Stopp der Gewalt gegen Demonstranten auf. "Ich habe ihm ganz klar gesagt, dass die Gewalt aufhören muss - auf der Stelle", sagte UNO-Generalsekretär Ban nach einem Telefonat mit Gadafi und fügte hinzu: "Das war kein einfaches Gespräch."

Ban pochte darauf, dass die Gewalt gegen Zivilisten nicht ungestraft bleiben dürfe. Einige Ereignisse "scheinen klare Verstöße gegen das internationale Recht und die Menschenrechte zu sein". Er wolle dafür sorgen, dass die Verantwortlichen für die Gewalt vor einem internationalen Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. "Diejenigen, die das brutale Blutvergießen an Unschuldigen anordnen, müssen bestraft werden", verlangte Ban am Mittwochabend vor Journalisten in New York.

Die Erklärung des Weltsicherheitsrates vom Dienstagabend, in der das höchste UNO-Gremium ein sofortiges Ende der Gewalt verlangt und an die Regierung appelliert hatte, auf die "legitimen Forderungen der Bevölkerung" einzugehen, begrüßte Ban. Die Vereinten Nationen hätten seit Jahren gemahnt, dem hohen Bevölkerungsanteil junger Menschen in der arabischen Welt mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Ihr Protest gegen das "Defizit an Demokratie" in der Region sei insofern keine Überraschung. Ban sagte, er habe seit Beginn der Protestwelle in Tunesien täglich mit politischen Führern in arabischen Ländern gesprochen und sie dazu aufgefordert, "auf die Stimme ihrer Leute zu hören". "Die Veränderungen im Nahen Osten sind historisch", so Ban. Die Vereinten Nationen seien bereit, den Menschen in der Region zu helfen, "die Herausforderungen des gewaltigen Umschwungs zu bewältigen".

EU verhängt Sanktionen
Nach einem entsprechenden Appell des italienischen Außenministers Franco Frattini beschloss die EU am Mittwochabend, Sanktionen gegen den libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi und seine Regierung verhängen - sofern die Gewalt nicht umgehend endet. In den zuständigen Arbeitsgruppen sollen nun mehrere Maßnahmen beraten werden, die demnach von Kontosperrungen über Einreiseverbote bis hin zu einem Waffenembargo reichen können.

"Sie haben sich auf eine Erklärung geeinigt, dass es weitere Maßnahmen geben soll - damit sind Sanktionen gemeint", sagte ein EU-Diplomat am Mittwoch in Brüssel. Die EU werde erklären, dass alle für die brutalen Aggressionen und die Gewalt in Libyen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die EU habe außerdem beschlossen, die Verhandlungen mit Libyen über ein Rahmenabkommen zur Zusammenarbeit auszusetzen und "weitere Maßnahmen" zu ergreifen, hieß es nach dem Treffen des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) der EU-Staaten.

"Die Situation ist dramatisch"
"Die Situation ist dramatisch, vor allem nachdem Gadafi seinen klaren Willen ausgedrückt hat, gegen sein eigenes Volk vorzugehen", warnte Italiens Außenminister Frattini nachdem in Berichten von mindestens 1.000 Toten die Rede war. Die Gefahr eines Bürgerkriegs sei "konkret". Trotz der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der italienischen und der libyschen Regierung verurteile das Kabinett Berlusconi die Gewalttätigkeiten in Libyen ausdrücklich. "Es gibt eine Grenze, die überschritten worden ist. Wir können angesichts dieses Blutbades nicht nicht protestieren", sagte Frattini.

Der italienische Außenminister bestritt außerdem Aussagen Gadafis, Italien habe die Raketen geliefert, die gegen die Demonstranten eingesetzt wurden. "Italien stellt keine Raketen her und verkauft sie nicht. Gadafis Worte sind eine Lüge", versicherte Frattini.

Europa steht "biblischer Exodus" bevor
Der Minister warnte zudem vor der Gefahr eines Massenexodus libyscher Flüchtlinge in Richtung Süditalien. "Wir wissen, was auf uns zukommt, wenn das libysche System zusammenbricht: eine Welle von 300.000 Flüchtlingen. Und das sind noch vorsichtige Schätzungen", betonte der Minister. "Wenn die libysche Regierung zusammenbricht, bleiben zweieinhalb Millionen Menschen ohne Arbeit zurück und werden flüchten. Natürlich werden nicht alle nach Italien fliehen, Griechenland ist näher, doch wir müssen uns auf einen biblischen Exodus vorbereiten. Das ist ein Problem, das kein Italiener unterschätzen kann", sagte Frattini. Er rief die EU auf, Italien mit einem möglichen Massenansturm libyscher Migranten nicht sich selbst zu überlassen. "Italien kann nicht allein die Lasten der Migrationswelle tragen", so Frattini.

Die EU-Kommission hat sich mit einer konkreten Rücktrittsaufforderung an den libyschen Diktator am Mittwoch allerdings zurückgehalten. Das libysche Volk müsse selbst über seine Führer entscheiden, erklärte ein Sprecher der Brüsseler Behörde am Mittwoch. Darauf angesprochen, dass EU-Parlamentspräsident Jerzy Buzek Gadafi jegliche Legitimität abgesprochen und den Diktator aufgefordert habe, Konsequenzen zu ziehen, meinte der Sprecher, es gehe darum, dass Gadafi die Ursache der Gewalt in seinem Land sei. Deswegen sei die Botschaft an die derzeitige libysche Führung ergangen, die Gewalt gegen das eigene Volk zu beenden und in einen Dialog mit den Demonstranten zu treten.

Immer mehr wenden sich von Gadafi ab
Nach den Drohungen von Gadafi vom Dienstagabend wenden sich immer mehr Politiker, Diplomaten und Soldaten von dem Diktator ab. Libyens Innenminister Abdel Fattah Younes gab seinen Rücktritt bekannt und stellte sich hinter die Protestbewegung. Younes sagte dem Fernsehsender Al-Jazeera: "Ich rufe die bewaffneten Sicherheitskräfte auf, auf die Forderungen des Volkes zu hören."

Auch ein hochrangiger Berater von Gadafis Sohn Saif al-Islam tritt von seinem Posten zurück. Er habe sich aus Protest gegen die Gewalt in seinem Land zu diesem Schritt entschlossen, schreibt der Berater Youssef Sawani in einer SMS an die Agentur Reuters. Sawani war bisher der Direktor der Gadafi-Stiftung, über die Saif seinen politischen Einfluss maßgeblich geltend macht.

Die libysche Botschaft in Österreich distanziert sich ebenfalls von der Gewalt des Gadafi-Regimes. "Die Botschaft verurteilt die exzessive Gewalt gegen friedliche Demonstranten", hieß es in einer Erklärung. Die libysche Botschaft rufe die Weltgemeinschaft auf, "ihrer Pflicht zum Schutz der Zivilbevölkerung nachzugehen und konkrete Maßnahmen zu setzen, um weitere Opfer zu vermeiden".

"Alles ruhig" oder am Rande eines Völkermordes?
Die Situation im Land schien unterdessen völlig unklar. Parlamentspräsident Mohamed Swei sagte am Dienstagabend in Tripolis, in den meisten großen Städten sei wieder Ruhe eingekehrt. Der libysche UNO-Botschafter Dabbashi warnte hingegen am Mittwoch vor der Gefahr eines Völkermords und berichtete von neuer Gewalt im Westen des Landes. Die Gegner Gadafis kontrollieren eigenen Angaben zufolge 90 Prozent von Libyen. Viele Armee-Einheiten und Sicherheitskräfte seien übergelaufen.

Vereinzelt drangen Berichte über die jüngsten Bewegungen des Gadafi-Clans nach draußen. So soll Ahmed Gadaf al-Dam, ein Verwandter von Gadafi, in Ägypten versucht haben, den Volksstamm der Awlad Ali mit Geld für den Kampf gegen die Aufständischen zu ködern. Der inzwischen vor allem an der ägyptischen Mittelmeerküste und in der Oase Fajjum beheimatete Stamm, der seine Wurzeln in Libyen hat, soll dieses Ansinnen jedoch abgelehnt haben.

Die Familie von Hannibal al-Gadafi, jenem Sohn des Diktators, der 2007 die Schweizer Prügelaffäre ausgelöst hatte, versuchte indes offenbar, in den Libanon zu fliegen. Der Privatjet mit der libanesischen Ehefrau Hannibals an Bord durfte jedoch nicht auf dem Flughafen Beirut landen. Im Flugzeug seien auch andere Familienmitglieder gewesen. Weil Libyen jedoch ihre Identität nicht preisgeben wollte, wurde der Pilot aufgefordert, seine Maschine in ein angrenzendes Land zu fliegen, entweder Syrien oder Zypern.

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