Nachkriegs-Horror

Deutschland: Ex-Heimkinder werden entschädigt

Ausland
14.12.2010 09:16
Es ist ein Dokument des Schreckens: Der Abschlussbericht "Runder Tisch Heimerziehung" listet das Schicksal von rund 800.000 Kindern und Jugendlichen in westdeutschen Erziehungsheimen auf - eine Jugend zwischen 1949 und 1975 mit Zwangsarbeit, Schikanen und sexuellem Missbrauch. Viele sind daran zerbrochen - und manches Trauma wirkt heute noch nach. Nun erhalten die Opfer insgesamt 120 Millionen Euro Entschädigung.

Als die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne, Bild) vor zwei Jahren auf Bitten des Parlaments den Auftrag übernahm, zusammen mit einem "Runden Tisch" dieses dunkle Kapitel deutscher Nachkriegspädagogik aufzuklären, sprach die Theologin von ihrer "bislang schwersten Aufgabe". Vollmer war sich von Anfang an bewusst, wie schwer es sein wird, die Forderungen der Opfer nach Anerkennung ihres Leidens und Schadensersatz mit den Interessen von Bund, Ländern und kirchlichen Stellen in Einklang zu bringen.

"'Bete und Arbeite' erlebte eine perverse Renaissance"
Denn ein Großteil der Heime wurde von Kirchen organisiert. Sie hießen "Heim zum Guten Hirten" oder waren nach Heiligen oder Ordensgründern benannt. Die Opfer galten als "schwer erziehbar", waren als Jugendliche oft nur wegen Bagatellfällen mit der Polizei in Konflikt geraten oder wurden als "Kinder der Sünde" einfach von ihren ledigen Müttern weggenommen und in Heime eingewiesen.

"Die alte Mönchsregel 'Bete und Arbeite' erlebte eine perverse Renaissance in diesen konfessionellen Erziehungsheimen der jungen Bundesrepublik", schreibt "Spiegel"-Autor Peter Wensierski. Mit seinem Buch "Schläge im Namen des Herrn", Interviews sowie umfangreichen Recherchen hatte Wensierski 2006 die Diskussion ins Rollen gebracht. Es bildeten sich Betroffenen-Gruppen, die sich dann an den Petitionsausschuss des Bundestags wandten. Er regte schließlich 2008 den Runden Tisch mit Vertretern von Staat und Kirchen an.

"Sklavenarbeit unter dem Deckmantel des Christentums"
Es galt als Wunder, dass die 22 Mitglieder - darunter sechs von Opferverbänden - unter Vollmers Leitung noch zu einer einstimmigen Abschlusserklärung zusammenfanden. Dass diese Gemeinsamkeit nicht lange halten würde, war zu erwarten. Schließlich geht es nicht nur um die Anerkennung von Unrecht und Entschuldigungen für zugefügtes Leid. Es geht auch um viel Geld. Im Vordergrund stehen dabei vor allem die Rentenansprüche für jahrelanges Torfstechen, Schuften in Küchen und Großwäschereien oder Hilfsarbeiten in Werkstätten. Erst von 1972 an führten die Heimträger für die Arbeitsdienste der 14- bis 21-Jährigen Sozialabgaben ab. Nur in seltenen Fällen gab es eine reguläre Berufsausbildung. Viele der Betroffenen sprechen heute von unbezahlter "Sklavenarbeit unter dem Deckmantel des Christentums" und klagen über ihre minimalen Renten.

Im katholischen Vincenzheim in Dortmund zum Beispiel mussten Mädchen und junge Frauen Wäsche für Hotels, Fabriken und Privathaushalte waschen. Schweigend, so berichten sie heute, hätten sie bis zu zehn Stunden am Tag mit den schweren Laken an der großen Heißmangel stehen müssen. Geld gab es keines. Vergeblich fragten die Betroffenen später bei der Krankenversicherung AOK nach ihren Sozialabgaben.

20 Millionen Euro sollen nach dem Willen des Runden Tisches in den Rentenfonds fließen, aus dem die Betroffenen auf Antrag Einmalzahlungen erhalten können. Doch die Betroffenen wollen eine Opferrente von 300 Euro monatlich - oder eine Einmalzahlung von 54.000 Euro, "weil viele von uns ja schon so alt sind und von einer Opferrente kaum noch etwas haben", sagte mit gebrochener Stimme die Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder, Monika Tschapek-Güntner.

Essensentzug, Zwangsernährung, Erbrochenes aufessen
Das meiste Geld aus dem 120 Millionen Euro umfassenden Entschädigungstopf soll allerdings für Einzelfallhilfe und für die Behandlung von Traumata aufgewandt werden. In nüchterner Sprache listet der Bericht die Demütigungen auf, mit denen Widerstand in den Heimen gebrochen wurde. Essensentzug, Zwangsernährung oder gar die Auflage, Erbrochenes wieder aufzuessen, galten als pädagogisches Disziplinierungsmittel. Schläge, so berichteten die ehemaligen Heimkinder bei den Anhörungen, waren an der Tagesordnung. Vielfach wurde auch über sexuelle Übergriffe geklagt.

Viele, die die Heimerziehung durchmachten, beteuerten bei den Anhörungen, sie hätten in den ersten Jahren danach aus Scham zunächst ihre Erinnerungen verdrängt. "Ich fühlte mich wie eine Aussätzige. Auf meiner Stirn stand Heimkind", erinnerte sich Sonja Djurovic, ebenfalls heute in einem Betroffenenverband aktiv.

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