Suche nach Lösungen

Lockdown vorbei – und was passiert dann?

Coronavirus
09.01.2021 06:00

Europa ist im Lockdown. Doch immer weniger Menschen tragen die Maßnahme mit. Experten suchen nach Lösungen und Alternativen.

Die Straßen leer. Kein Kinderlachen auf den Spielplätzen. Büros im Home-Office. Mädelsabende über Skype. Im ersten Lockdown waren alle dabei. Wollten helfen, die unbekannte Gefahr zu bekämpfen. Der Bundeskanzler gab den Ton vor: „Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist.“ Die Österreicher glaubten es, hielten zusammen und entsprachen damit dem, was Psychologin Barbara Juen im „Krone“-Interview die „Honeymoon-Phase“ nennt.

Die Flitterwochen sind vorbei
Nun sind die Flitterwochen vorbei, die Motivation der Menschen im Land lässt nach. Der Politik bleiben zwei Möglichkeiten: Die eine ist, mit harten Maßnahmen - und dazugehörigen Sanktionen - die Menschen zur Kontaktbeschränkung zu zwingen. Deutschland etwa schränkt den Bewegungsradius auf 15 Kilometer ein, Italien verbot um Weihnachten das Verlassen der eigenen Region. Das ist aber nicht nur teuer - eine Woche Lockdown kostet Milliarden, Langzeitfolgen wie Arbeitslosigkeit und Insolvenzen nicht eingerechnet - sondern auch heikel. In Demokratien sind Eingriffe in die persönlichen Freiheiten rechtlich schwierig - und werden von Opposition und Bevölkerung kaum mitgetragen.

Die Alternative, so die Experten im „Krone“-Gespräch ist, die Menschen mit offener und ehrlicher Kommunikation in die Entscheidungen einzubinden. Das Problem: In der Ruhe des Sommers verabsäumte es die Politik, Strategien auszuarbeiten. Für Schulen und Wirte. Für den Handel, die Pflegeheime. Für Tests und die absehbaren Impfungen. Für das Verfolgen der Kontakte.

Zahlen steigen weiter
Und die Zahlen stiegen. Mit 6641 Covid-Toten steht die Kurz’sche Prophezeiung vom Frühjahr 2020 deutlich näher vor der Erfüllung. Gestern wurden 2063 Neuinfektionen gemeldet. Allein: Nach Monaten der Fehler, der Missgeschicke, der aufgehobenen Verordnungen und der Missinformation fehlt den Menschen der Glaube an die Politik. Nach Monaten der Einschränkungen will man wieder frei sein. Ein Wunsch, der angesichts der andauernden Pandemie nicht zu erfüllen ist. Also was tun? „Zumindest die Fragen der Menschen beantworten“, sagt Psychologin Juen. Chancen dazu hätte die Regierung bei ihren beinahe täglichen öffentlichen Auftritten ausreichend …

Gesundheit: Auf Begleitschäden achten
„Es ist nicht so, dass der Lockdown gar nicht wirkt“, sagt Hans-Peter Hutter, „die Zahlen halten sich relativ stabil, obwohl es durch die Feiertage ja einige Zugeständnisse gab und die Nerven bei vielen Menschen schon blank liegen.“ Dennoch plädiert der Mediziner der MedUni Wien dafür, den Blick wieder mehr auf ein Maßnahmenbündel zu richten. „Man diskutiert nur noch über den Lockdown - zusperren ja oder nein -, dabei sollte man auch alle anderen Mosaikteile beachten“, sagt Hutter. Etwa das Testen und Tracen, das mittlerweile völlig aus der Kommunikation verschwunden sei. „Dabei ist die Nachverfolgung eines der wichtigsten Instrumente“, erklärt der Mediziner.

Man müsse alle Maßnahmen wirklich ausschöpfen, um über Öffnungsschritte nachdenken zu können - und „die Begleitschäden nicht aus den Augen verlieren“. Der Lockdown sei zwar aus infektiologischer Sicht die einfachste Maßnahme, aber man müsse viel deutlicher differenzieren, sagt Hutter - etwa wenn es um Kindergesundheit geht. „Den Unternehmen kann man Umsatzersatz bezahlen, aber bei Kindern geht es um andere Werte und Qualitäten, die man nicht kompensieren kann“, ist sich der Mediziner sicher.

„Der Lockdown ist eine Amputation, aber es bräuchte mehr mittelchirurgisches Vorgehen“, zeichnet der Arzt ein Bild - um eine Balance zu schaffen zwischen dem Eindämmen und Minimieren der Infektionen und der Eindämmung von wirtschaftlichen oder psychosozialen Begleitschäden. „Man müsste den Lockdown nicht zwingend verlängern, wenn die anderen Maßnahmen wie etwa die Kontaktverfolgung wirklich funktionieren würden“, betont der Umweltmediziner.

Psychologie: Mit den Menschen reden
„Was im Moment schief läuft, ist, dass die Bevölkerung nicht aktiv ins Boot geholt wird“, erklärt Psychologin Barbara Juen. Eine Katastrophe verlaufe in mehreren Phasen. Die erste sei die „Honeymoon“-Phase, also eine Zeit, in der der Zusammenhalt groß ist, die Menschen eine Meinung teilen; danach aber kommt die so genannte Desillusionierungsphase, in der die Menschen zunehmend verärgert sind - und genau da befinden wir uns im Pandemieverlauf aktuell, so die Expertin. Das sei eine typische Entwicklung - aber: „Ideen wie das Pseudo-Freitesten verärgern die Menschen zusätzlich“, erklärt Juen. Man habe es im Sommer verabsäumt, einen Boden für eine aktive Beteilung der Bevölkerung zu legen. Nun zu sagen, man müsse Zwangsmaßnahmen verhängen, weil die Bürger freiwillig nicht mitmachen, sei der falsche Weg, sagt Juen, denn man könnte eine wesentlich aktivere Beteiligung erzielen, wenn man anders mit den Menschen umgehen würde. Der Lockdown per se sei nicht das Problem - auch nicht eine etwaige Verlängerung desselben, sondern die Art, wie mit den Menschen gesprochen wird, so die Psychologin.

„Dialog ist das Stichwort“, erklärt Juen. „Man müsste mit den Zielgruppen in Kontakt treten und vor allem jene erreichen, die sich schwertun, die Maßnahmen einzuhalten.“ Bei Jugendlichen etwa über „Influencer“ - und denen transparent erklären, warum, wann und wie, welche Entscheidungen getroffen werden. „Wenn man die Anliegen der Menschen nicht erfüllen kann, dann sollte man ihnen wenigstens ihre Fragen beantworten“, sagt Juen. Das habe zwar in Österreich keine gute Tradition, aber man könne in individualistischen Kulturen eben nicht so vorgehen wie in Asien. Zudem gewöhne sich der Mensch zunehmend an die Katastrophe - „Angst ist also keine treibende Kraft mehr“.

Nach der Desillusionierungsphase sollte es sich übrigens im Mittelmaß einpendeln, das gehe aber nur, „wenn das Impfen nicht komplett schiefgeht und wieder ein bisschen mehr Normalität einkehrt“, so die Psychologin.

Mathematik: Zahlen aktuell schwer zu lesen
Mit 2063 Neuinfektionen gestern (das sind nur 33 weniger als in der Vorwoche) bringt der Lockdown nicht den erhofften Rückgang im Infektionsgeschehen. Wird das zusperren also zunehmend zahnlos? Ganz so einfach ist es nicht, erklärt Mathematiker Niki Popper, denn die Zahlen seien im Moment schwierig zu lesen. Man stelle sich vor, sagt Popper, eine Uhr geht immer zehn Minuten vor - darauf könne man sich einstellen. „Im Moment geht die Uhr aber an einem Tag zehn Minuten vor, am nächsten fünf zurück und am übernächsten wieder 15 vor. Die Uhr - das ist die Teststrategie: Im Sommer war das nachvollziehbar, man wusste an den Wochenenden passiert weniger, konnte das mit einberechnen“, sagt der Simulationsforscher. Doch nun gab es Massentests und Feiertage. „Vor Weihnachten gingen mehr Menschen testen, als danach. Die Labore haben über die Feiertage anders gearbeitet, die Meldeschiene funktionierte zum Teil verzögert.“ All das müsse man auseinanderbröseln, um festzustellen, was das Zusperren bringt. Fakt ist aber: Maßnahmensetzung hat immer mit Umsetzung zu tun - je weniger die Menschen mitmachen, desto kleiner der Erfolg.

Wie kann es also weitergehen? Es gebe zwei Entwicklungen, die es zu beobachten gelte, sagt Popper. Zum einen die britische Mutation, zum anderen etwas tatsächlich Positives: „Wir hatten mit Jahreswechsel laut Berechnungen über eine Million Infizierte“, erklärt Popper Modelle auf Basis neuester Dunkelziffer-Studien. Und das ist gut, denn diese Menschen können zumindest aktuell niemanden anstecken.

Und doch: So gut wie zu Beginn der Pandemie zieht der Lockdown nicht mehr. Es sei also ratsam, sich mehr anderen Maßnahmen zuzuwenden. Etwa dem Testen und Isolieren - und eine einheitliche Teststrategie im ganzen Land auf die Beine zu stellen. Etwa in dem die Tests zu den Menschen kommen (in Unternehmen, Schulen und Co.) und nicht die Menschen zu den Tests müssen. All das über Motivation statt Zwang. „Man muss den Menschen vermitteln, dass das Testen sinnvoll ist, weil dann die Positiven zwar ein paar Tage zu Hause bleiben müssen, der Rest aber ganz normal in die Schule oder Arbeit gehen kann“, schlägt Popper vor.

Schulen: Selbstest als Lösung
Es ist das wohl emotionalste Thema in der Pandemie: die Schule. Das erklärte Ziel von Bildungsminister Heinz Faßmann ist nach wie vor, am 18. Jänner in den Präsenzunterricht zurückzukehren - also noch vor dem Lockdown-Ende.

Damit das gelingt, soll durch Selbsttests in den Schulen ein zusätzliches Sicherheitsnetz gespannt werden. Die Kinder sollen sich zweimal in der Woche freiwillig testen können; die Kleinsten mit Hilfe der Eltern, die Größeren - nach gemeinsamem Start in der Schule und samt Einverständniserklärung der Eltern - selbst. Das Ministerium habe dafür bereits Tests gekauft, deren Sicherheit durch Studien der Berliner Charité und der Österreichischen AGES belegt sind. Die Selbsttests werden im vorderen Nasenbereich abgenommen, seien nicht invasiv und absolut schmerzlos, betont das Bildungsministerium.

Positiv getestete Kinder sollen mittels PCR-Test noch einmal getestet, die infektiösen so aus den Klassen gefischt werden, heißt es aus dem Bildungsministerium. Details sollen am Samstag bekannt werden.

Tourismus: Wenig Alternativen
„Bei 2000 Infektionen am Tag ist es klar, dass wir nicht aufsperren werden.“ Resignierende Stimmen aus der Gastronomie. Nach insgesamt gut fünf geschlossenen Monaten ist die Lust, endlich wieder Gäste zu bewirten, groß. Umsatzersatz, Kurzarbeit und Fixkostenersatz haben viele Betriebe durch die Krise gerettet; Sperrstunden, Personenbeschränkungen und Gästeregistrierung machten ihnen das Leben schwer. Seit Wochen wartet die Branche darauf zu wissen, wie es weitergeht. „Wir brauchen so schnell wie möglich Perspektiven - wie auch immer die aussehen mögen“, sagt Sprecher Mario Pulker. Unter alle Freude aufs Aufsperren nach so langer Zeit mischt sich bei vielen Sorge: Öffnet man bei hohen Zahlen, kann schnell der neue Lockdown folgen. Der Winter ist vielerorts abgeschrieben, ein ständiges Auf und Zu könnte schnell auch den Frühling, gar den Sommer gefährden. Denn solange die Zahlen nicht sinken, bleiben die Touristen aus. Viele Nachbarländer haben eine Sieben-Tages-Inzidenz von 50 für sicheres Reisen vorgegeben - aktuell liegt sie bei 156.

Handel: Viele stehen vor der Pleite
Airfield, Colloseum, Dressman, Bonita und Stefanel: Die Liste der Corona-Opfer im Modehandel ist prominent. Und lange nicht vollständig - ein Drittel der Modehändler fürchtete laut Handelsverband schon im Vorjahr, die Krise nicht zu überstehen. Zwar sank die Zahl der Insolvenzen insgesamt 2020 auf den niedrigsten Stand seit 30 Jahren, das liegt laut Kreditschützern aber daran, dass viele Unternehmen über Staatshilfen am Leben erhalten werden. Wenn die auslaufen und gestundete Steuern schlagend werden, rechnen Experten mit einer Pleitewelle. Vor allem die Schließungen in den umsatzstarken Monaten Dezember und Jänner machen den Händlern zu schaffen - viele Österreicher weichen auf (oft ausländische) Online-Shops aus. Um einen vierten Lockdown zu vermeiden, kann sich der Handelsverband Zutrittstests vorstellen - allerdings nur in Kultureinrichtungen, Hotels und Restaurants, also dort, wo die Verweildauer eine längere ist. Im Handel, so der Verband, läge sie im Schnitt nur bei 13 Minuten, ein Infektionsrisiko sei gering.

Regierung: Was macht die Mutation?
Die neue Virus-Mutation ist zwischen 40 und 70 Prozent ansteckender. Aber was bedeutet das konkret? Steckt man sich im Vorbeigehen an? Und wie wirkt sich das sogenannte „Briten-Virus“ auf die Maßnahmen aus? All das sind Fragen, die die Regierung aktuell beschäftigen. Dem Vernehmen nach soll die Öffnung am 24. Jänner laut aktuellem Stand dennoch halten. Freilich nicht für alle Bereiche, sondern behutsam und verbunden mit den bekannten Corona-Regeln.

Das Freitesten könnte künftig durch ein Zutrittstesten ersetzt werden - etwa vor dem Besuch von Veranstaltungen. Wann es solche aber wieder geben wird, ist ob der Mutation und dem immer noch hohen Infektionsgeschehen fraglich. Auch ein vierter Lockdown ist laut Regierungskreisen nicht auszuschließen, sollten die Zahlen nach der Öffnung wieder hochschießen.

Opposition: Strategie fehlt
„Ein funktionierendes Contact Tracing, eine neue, innovative Teststrategie für Österreich und eine perfekt vorbereitete Corona-Impfstrategie für 2021“, das wünscht sich SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Sie spricht sich nicht grundsätzlich gegen einen Lockdown aus. Entscheidend sei, bei welchen Zahlen man das Land wieder hochfahre - sind sie zu hoch, könnte schnell ein weiterer Lockdown folgen. Auch die NEOS setzen ihre Hoffnungen in einen Impfplan und fordern einen klaren Plan, in welchen Schritten man aus dem Lockdown wieder herauskommt. „Ein Lockdown, egal, wie hart, ist keine geeignete langfristige Strategie in der Pandemiebekämpfung“, sagt die FPÖ. Statt des Herunterfahrens des ganzen Landes solle man besonders gefährdete Gruppen in Altenwohn- und Pflegeheimen schützen.

Arbeit und Wohlstand: Jede Woche kostet Milliarden
Jede weitere Woche im Lockdown mache auch die Zeit nach der Pandemie schwieriger, sagt Wirtschaftsforscher Martin Kocher. Der Chef des Institutes für Höhere Studien rechnet mit rund einer Milliarde, die jede Woche mit geschlossenen Betrieben koste. Das Problem: Ab einer gewissen Dauer würden Konsumenten ihre Einkäufe und Investitionen nicht mehr aufschieben, sondern in den ausländischen (Online-)Handel auslagern. Noch sei das System nicht am Limit, aber je länger der Lockdown dauere, umso größer würden die Kollateralschäden. Zu ihnen zählen auch die Arbeitslosen. Ende Dezember waren 521.000 Menschen arbeitslos gemeldet, im ersten Lockdown im April waren es 588.000 - die höchste Zahl seit 1945. Ende Jänner rechnet AMS-Chef Johannes Kopf mit einem weiteren Anstieg. Der dritte Lockdown führe zu mehr als einer Verdopplung der Arbeitslosigkeit alleine in Gastronomie und Tourismus gegenüber dem Vorjahr, so Kopf. Das Problem: Je länger die Krise dauert, umso schlechter werden die Wiedereinstellungschancen vor allem für Langzeitarbeitslose und Niedrigqualifizierte.

Anna Haselwanter und Teresa Spari, Kronen Zeitung

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