SCHLAGFERTIG

Martin Grubinger: „Die Ruhe vor dem Sturm“

Salzburg
19.12.2020 23:36
„Seine Frau Maria Barbara ist tot. Ihm widerfuhr der empfindliche Schmerz, sie bey seiner Rückkunft todt und begraben zu finden.“ (Köthen 1720)

Als Johann Sebastian Bach gerade die Partita Nr.2 komponierte, erfuhr er vom Tod seiner Gattin Maria Barbara. Daraufhin widmete er ihr den letzten Satz dieses Werks. Die Chaconne! Ich befasse mich derzeit intensiv mit diesem Werk, erarbeite es selbst, lese mich in die Geschichte ein und versuche, eine schlüssige Interpretation daraus zu gewinnen. Aber zuallererst spendet es mir Trost.

Wir alle flüchten uns das ein oder andere Mal in die Musik. Hören sie, um der bitteren Realität zu entfliehen, uns zu vergnügen oder aber, um unsere Gedanken zu sortieren. Es gibt viele Dinge, die in meinem Kopf herumschwirren, mich berühren, mich wütend und traurig zugleich machen. Bachs Chaconne hilft mir, diese Gedanken, während ich sein Meisterwerk spiele, zu ordnen. Am Beginn stellt Bach das Hauptthema in einem D-Moll-Motiv vor. Mit den verwendeten Tönen buchstabiert er nochmals den Namen seiner verstorbenen Gattin.

Man spürt den Schmerz, die Verzweiflung und Hilflosigkeit. Ich denke in diesem Moment an das Lichtermeer vor dem Stephansdom, das an mittlerweile über 5000 Tote Bürgerinnen und Bürger in dieser Pandemie erinnert. Gefolgt von einem Pianissimo, das mit ganz einfachen, nur zärtlich hingehauchten Tönen das Wehklagen derer symbolisiert, die, trotz mangelnder Unterstützung, gegen den Tod dieser vielen Menschen angekämpft haben. Vereinzelt hört man ihre flehentlichen Stimmen – aber wie in Bachs Musik finden sie gegen die schweren Akkorde veröffentlichter Meinung kaum Gehör.

Dann eröffnet Bach die Durchführung. Es ist die Mehrstimmigkeit, die dieser Musik Bedeutung verleiht. Das Ringen der Töne und Worte um Gewicht. Der notwendige Diskurs, verbunden mit der Freiheit zu sagen und zu schreiben, was ist. Der Widerspruch, der den notwendigen gesellschaftlichen Fortschritt befeuern soll. Das Abwägen mehrstimmiger Strömungen. Und am wichtigsten: Welche Priorität haben inhaltliche Stränge?

Freiheit, Bildung, Zusammenhalt, physische und psychische Gesundheit und die Notwendigkeit demokratischer Dissonanz. Oder aber Partikularinteressen und Fokus auf sich selbst, ohne aber den Ausgang dieses Werks zu berücksichtigen. Immer wieder stemmt sich Bach vehement gegen die selbst verordneten Regeln. Diesen Widerstand aber fängt er mit protestantischer Härte zu sich selbst wieder ein. Aber der Schmerz lässt nicht nach. Es mündet in einem wilden Arpeggio. Akkord-Kaskaden, die nichts Verspieltes haben, sondern eine Vorahnung auf das Kommende begründen.

Viele spüren und wissen, dass es im Sinne unserer Demokratie mehr Widerspruch, mehr Widerstand und mehr journalistische Freiheit bräuchte.

Aber wie genau in diesen Zeiten? Es endet im Tumult mit schweren Bass-Schlägen und mündet im Ausgangsthema. Das D-Moll-Grundmotiv transformiert sich in einen wohlig klingenden D-Dur-Akkord. Die Akkord-Zerlegungen spiegeln Normalität wider. Es ist die geschönte Fassade, die in Bachs Chaconne nur wenige Takte aufrecht zu erhalten ist. Denn zu stark drängt das eigene Gewissen. Er weiß, wie es um ihn steht – wir wissen, wie es um uns steht.

Der D-Dur-Akkord steht majestätisch, ja präsidentiell zu Beginn des Schlussabschnitts. Und schon mischt sich ein tiefes C dazwischen. Das Präsidentielle, auch das Klerikale ermatten in diesen Akkorden. Menschen sterben, werden von Ratten angebissen, liegen im Dreck und finden keinen Ausweg. Jene aber, auf die wir unsere Hoffnungen stützen, finden keine oder nur unzureichend Worte für diese vorweihnachtlichen Tragödien. Sind sie in Müdigkeit, Gleichgültigkeit oder gar profanen Eigeninteressen gefangen?

Bach aber hat einen Plan. Er rüttelt auf. Lässt die Paläste und Prunkbauten seiner Musik einstürzen und reduziert sich auf das Wesentliche. Er lässt den Interpreten nur mehr das Notwendigste sagen. Keine Zierde, keine Begleitakkorde, kein Prunk. Stattdessen Vehemenz. Am Ende ein A-Ostinato mit Halbtonschritten. Es symbolisiert die zerrissene Gesellschaft. Mutwillig zerstört von jenen, denen der Gleichklang schadet. Sie brauchen den Ausnahmezustand – sich selbst im Mittelpunkt wähnend.

Bach wusste, dass dies kein Mittel auf Dauer ist. Am Ende führt er die Akkorde, leise hingetupft, auf einen einzigen Ton zusammen. Es endet am tiefen D. Endlich innere Ruhe. Oder aber auch die Ruhe vor dem Sturm.

Ihr Martin Grubinger

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