Neues Album „2020“

Bon Jovi: Das politisch-soziale Gewissen Amerikas

Musik
02.10.2020 06:00

Die aktuellen Ereignisse rund um Corona und „Black Lives Matter“ haben Bon Jovi überdenken lassen, ob sein neues Studioalbum „2020“ auch so in Ordnung ist, wie gedacht. Nun hat er das Album um zwei neue Tracks ergänzt und ist damit so amerikanisch, wie sonst nur Bruce Springsteen. Dem rückt der 58-Jährige auch musikalisch immer näher.

(Bild: kmm)

Für den Stadionrock sind harte Zeiten angebrochen. Er hat längst nicht mehr die Strahlkraft der alten Tage, auch wenn er - in einer normalen, nicht Corona-pandemierten Gesellschaft - noch immer abertausende Begeisterte an einen Ort lockt, um in lauen Sommernächten für Nostalgie zu sorgen. „Früher war alles besser“ gilt nämlich für das Gros der Großen. Entweder deshalb, weil die Songs einst besser waren (AC/DC), man mehr Agilität auf die Bretter brachte (Phil Collins) oder man das beliebige Songwriting nicht hinter überbordenden Effekten verstecken musste (Coldplay). Jon Bon Jovi hatte bei seinem letzten Auftritt im Wiener Happel-Stadion ein bisschen Probleme mit allen drei Punkten, vor allem aber krächzte er sich mehr schlecht als recht durch den Gig. Natürlich ist es gerade für treue Hardcore-Fans schwierig, sich Mängel eines perfekten scheinenden Heroen einzugestehen, aber manchmal tut die Wahrheit eben weh. Das Gute an Corona ist, dass dem Amerikaner nun genug Zeit bleibt, um sich umso stärker zurückmelden - musikalisch klopft er ohnehin wieder an.

Album aktualisiert
„2020“ sollte eigentlich schon im Frühling das Licht der Welt erblicken, doch dann kam das Virus und schlussendlich auch noch „Black Lives Matter“. Für den immer politischer agierenden Strahlemann aus New Jersey war das Grund genug, um sein ohnehin visionär gehaltenes Werk noch einmal zu überdenken und zu verändern. „This House Is Not For Sale“, der kommerziell erfolgreiche, künstlerisch aber schwer hinkende Vorgänger aus dem Jahr 2016, war ungemein persönlich geraten, für das neue Werk wollte Bon Jovi bewusst das Weltgeschehen abbilden und die in etwas mehr als einem Monat über die Bühne gehende US-Präsidentschaftswahl in den Mittelpunkt stellen. Daher flackert auch die amerikanische Flagge in den Spiegelsonnenbrillen des Frontmanns am Cover-Foto, der sich dort bewusst als Einzelgänger inszeniert. Schließlich hat er auch acht der zehn neuen Songs alleine geschrieben, das Bandgefüge der alten Tage scheint zunehmend zu einer reinen Live- und Studiogeschichte zu werden.

Was vor allem alte Bon-Jovi-Fans noch immer nicht ganz wahrhaben wollen ist die Tatsache, dass die Zeiten der großen Rockgrätsche vorbei sind. Richie Sambora ist seit sieben Jahren nicht mehr Mitglied im New-Jersey-Kollektiv, eine Rückkehr des Gitarrenzauberers mit dem Gespür für flottes Songwriting ist in eine ungreifbare Ferne gerückt. Mit Sambora haben Bon Jovi möglicherweise ihr Mojo, bestimmt aber ihre letzten Spuren der rock’n’rolligen Rüpelhaftigkeit verloren, die trotz aller Balladen und Hymnen stets jederzeit gefährlich zum Vorschein kommen konnte. „2020“ hat mit ruppigen Rock-Songs á la „Raise Your Hands“ überhaupt nichts mehr zu tun, aber Jon Bon hat sich schon vor Jahren in eine Richtung positioniert, die ihn immer stärker an sein großes Idol Bruce Springsteen bringen soll. Mehr Pathos, mehr politisches Gewissen, noch mehr „Ooohoho“-Momente, ohne aber die glamouröse Zugangsweise im Songwriting zu verlieren.

Einmal noch die Welt retten
Die hemdsärmelige Großspurigkeit eines Springsteen wird nicht mehr versteckt. Schon die im Frühling ausgekoppelte, zweite Single „Limitless“ sieht sich kompositorisch im Fahrwasser des „Boss“, noch deutlicher tritt diese Ehrerbietung bei „American Reckoning“ hervor, einer der beiden Songs, die Bon Jovi aktuell nachgereicht hat. Er behandelt den tragischen Tod von George Floyd und hinterfragt mit ungekünstelter Trauer, welchen Weg die bröckelnde Weltmacht denn in Zukunft einschlagen soll, wenn sich die Bürger schon untereinander immer stärker spalten. Der überzeugte Demokrat und Obama-Intimus Bon Jovi bedient sich dabei einer geisterhaften Atmosphäre, die aber stets hoffnungsfroh bleibt und niemals das Aufgeben propagiert. Der zweite neue Track ist die Anti-Covid-Hymne „Do What You Can“, deren enthusiasmierter Pragmatismus von einer überraschend reduzierten Instrumentierung getragen wird, und die Bon Jovi exakt als das darstellen, was er selbst auch am liebsten wäre: der Mann, der die Welt wieder zu einem besseren Ort machen kann.

Auch wenn die Hymnenlastigkeit von Songs wie „Beautiful Drug“ oder der bereits vor fast einem Jahr (!) veröffentlichten Single „Unbroken“ unzweifelhaft vorhanden ist, glaubt man dem Sänger ohne Umschweife, dass es ihm nicht mehr um kommerzielle Erfolge geht. Bon Jovi ist nicht nur aufgrund seiner Tellerwaschtätigkeiten in seiner „JBJ Soul Kitchen Community“ ein Mann mit sozialem und politischem Gewissen - er ist an einem Punkt angelangt, wo er sich lieber um die großen Probleme der Gesellschaft, als um das nächste volle Stadion kümmert. Im Gegensatz zu einem Bono von U2 tut der 58-Jährige das ohne wedelnden Zeigefinger, sondern mit spürbarem Herzblut. Gerade damit ist er seinem Idol Springsteen näher als mit den Songs, den kompositorisch und auch stimmlich fehlt Bon Jovi das nötige Gespür für die wirklich imposanten, inoffiziellen „Nationalhymnen“, die der „Boss“ alle heiligen Jahre nahezu mühelos aus dem Ärmel schüttelt.

Transformation eingeleitet
Balladen kann Bon Jovi am besten, das weiß man nicht erst seit „Always“ oder „Bed Of Roses“. Das von einem Piano getragene „Story Of Love“ sorgt mit fein eingesetzten Gitarrensoli genau für diese epischen Stadionmomente, die zunehmend vom Aussterben bedroht sind. Warum sollte ein Song auch nicht erlaubt sein, der sich nicht davor scheut die breite Masse anzusprechen? Die Gediegenheit von Songs wie „Beautiful Drug“ oder „Let It Rain“ haben natürlich wenig mit dem ungestümen Haarspray-Träger zu tun, der mit „Runaway“ die Herzen der 80er-Teenies eroberte, aber kurz vor seinem 60er sieht Bon Jovi seine Rolle auch nicht mehr im Sturm-und-Drang-Segment, sondern in der Beobachtung und dem Aufzeigen aktueller Geschehnisse. Auf „2020“ haben Themen wie Massenschießereien und Polizeigewalt genauso Platz wie Hymnen auf Kriegsveteranen und die Tücken des Kindererziehens. Damit ist Bon Jovi in der Gegenwart tatsächlich ein „junger“ Springsteen - nur sollte er darauf achten, das Original künftig nicht zu sehr zu kopieren.

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