Album „The Neon“

Erasure: Eskapismus mit analogen Synthesizern

Musik
24.08.2020 06:00

Seit gut 15 Jahren befinden sich die 80er-Jahre Synthpop-Helden Erasure in ihrem zweiten Karrierefrühling - daran ändert auch das brandneue Album „The Neon“ nichts, für das Vincent Clarke seine alten Analog-Synthesizer entstaubte und sich Andy Bell textlich in ein imaginäres Wunderland fantasierte, das eine Ausflucht aus der Realität anbietet.

(Bild: kmm)

2020 mag uns in jeder Hinsicht herausgefordert und aus täglichen Routinen entrissen haben, aber für Synth-Pop-Fans ist der Beginn des neuen Jahrzehnts ein goldener. Nicht nur, dass sich alle modernen Popstars von Dua Lipa über Lady Gaga bis hin zu Katy Perry dem besten Disco-Jahrzehnt aller Zeiten zuwenden, haben auch zwei der kultigsten Bands aus Großbritannien neue Alben am Start. Nach einem famosen Werk der Pet Shop Boys Ende Jänner warten nun auch die unermüdlichen Erasure mit neuer Musik auf. „The Neon“ ist bereits das 18. Studioalbum in 35 Jahren Bandgeschichte und beweist vor allem, dass das Alter nur eine Zahl ist. Wer erinnert sich nicht an Welthits wie „Chains Of Love“ oder „A Little Respect“, mit denen die Band in den 80er-Jahren zu Topstars wurden und sogar die Grunge-Welle überlebten. „Always“ war 1994 die Krönung vor dem tiefen Fall. Jahrelang experimentierten Erasure ab Mitte der 90er mit Ambient-Klängen und Hip-Hop-Beats und stürzten in die Bedeutungslosigkeit.

Alte Stärke gefunden
Erst durch die Aufnahme des Hit-Songs „A Little Respect“ in die Erfolgsserie „Scrubs“ und des stilistischen Comebackalbums „Nightbird“ 2005 fanden Andy Bell und Vince Clarke wieder in die Spur zurück. Seither arbeiten die beiden konstant und rhythmisch an neuen Songs, zeigen sich hier und da auch live auf den Bühnen und feiern ihr unsterbliches Vermächtnis mit einstigen Wegbegleitern, ewigen Nostalgikern und jungen Fans, die nicht zuletzt dank des allumfassenden 80er-Hypes rund um Netflix und Co. in die synthetische Akustikwelt des Londoner Duos hineinfinden. In Österreich waren Erasure übrigens 1997 zu Gast - im Vorprogramm von Superstar Robbie Williams im Wiener Ernst-Happel-Stadion. „An schlechten Tagen kann es manchmal schon frustrierend sein, dass nicht du der Grund bist, warum dieses Stadion voll ist, sondern jemand anders“, hat Frontmann Andy Bell damals grundehrlich der „Krone“ diktiert, „aber wenn man im Leben weiterkommen will, dann darf man nicht immer arrogant darauf pochen, der Beste zu sein. Robbie ist jünger als wir, aber wir können unheimlich viel von ihm lernen.“

Diese Analyse sagt sehr viel über Sein und Wirken von Erasure aus. Während das alles überschattende Genre-Flaggschiff Depeche Mode sich durch Drogenskandale und mediale Verweigerungshaltung interessant machte und die Pet Shop Boys niemals stark aus ihrer musikalischen Erfolgsspür rückten, haben Erasure ihre Visionen immer kompromisslos durchgezogen. Auch wenn das eine Zeit lang bedeutete, gänzlich aus den Trends zu verschwinden und eine zugunsten der künstlerischen Freiheit kommerziell florierende Karriere zu opfern. „Wir waren nie zu feige neue Wege einzuschlagen und uns in gewisser Weise neu zu erfinden“, erinnerte sich Clarke an die künstlerisch eher unbeliebte zweite Hälfte der 90er-Jahre, „wir wussten im Vorfeld nie, wohin die Reise geht. Aber klar - manchmal hatten wir bessere Ideen, manchmal schlechtere. Wir hatten aber auch immer das Glück Fans zu haben, die uns nicht komplett vorverurteilten, sondern auch unseren Experimenten immer erst einmal eine Chance gaben.“

Hoffnung und Optimismus
Das letzte Studioalbum „World Be Gone“ vor drei Jahren war eine Zäsur. Erstmals nach fast 30 Jahren artikulierten sich Erasure wieder klar politisch. Die ins Wanken geratene Weltlage und tägliche mediale Rülpser von Donald Trump und Boris Johnson machten es für die beiden Lebensmenschen notwendig, mit dem Finger zu wedeln. Obwohl die Welt in den letzten drei Jahren keinesfalls eine bessere geworden ist, ist auf „The Neon“ nichts mehr darauf zu finden. Das neue Werk soll vielmehr Hoffnung bringen, Optimismus evozieren und möglicherweise auch zur aktiven Teilnahme am Weltgeschehen animieren - ohne dabei in geopolitische Sphären zu rücken. Dafür ist das Hit-Material wieder sehr reichhaltig ausgefallen. Schon die erste Single „Hey Now (Think I Gotta Feeling)“ musste sich nicht vor den Großtaten der Band verstecken. „Nerves Of Steel“ schlägt in eine ähnliche Kerbe, während „No Point in Tripping“ und „Shot A Satellite“ gegen Mitte des Albums plötzlich an Fahrt aufnehmen und die typische Erasure-Rezeptur mit moderner Elektronik vermischt.

Modernität oder Zeitgeistigkeit waren im aktuellen Kompositionskosmos der Briten aber kein großes Thema. Soundtüftler Clarke entstaubte in seiner Wohnung in Brooklyn seine alten Synthesizer und beschloss, die neuen Soundstrukturen analog aufzunehmen. Als er den ständig zwischen London und Miami pendelten Bell zu sich holte, war der ob der Wucht des Soundmaterials begeistert und begann sofort, die für ihn typischen Texte dazu zu formen. Die finalen Aufnahmen fanden dann in Atlanta, Georgia statt, wo Bells Lebenspartner ein kleines Apartment besitzt und sich für das Kreativduo das Gefühl der frühen London-Tage einstellte. „The Neon“ ist einerseits der Liebe Bells zu allem was Neonfarben ist geschuldet, andererseits wollte man damit eine für jeden Hörer ganz persönliche Welt des Eskapismus öffnen, um sich von den Querelen des Alltags abzusetzen. „Ein Ort der eigenen Vorstellungskraft, in dem du von unserer Musik geführt wirst und wo alles möglich ist“.

Temporäre Trennung
Die temporäre Trennung tut den beiden nach jedem Albumprozess immer wieder gut, um gemeinsam wieder auf Schiene kommen. Bell, der aufgrund von Covid-19 aktuell seit einem halben Jahr von seinem Lebenspartner getrennt ist, hat sich mit seinen Torsten-Alben und diversen Theaterproduktionen Lebensträume erfüllt. Der stille Clarke arbeitete einstweilen mit Paul Hartnoll für Orbital zusammen, fertige Remixe für Künstler wie Miss Kittin, Miyagi und James Yorkston und rief kurzerhand seine eigene Radiosendung ins Leben. Das jeweilige Zusammenfinden nach den selbst aufgestellten Abstandsregeln erweist sich für die Band schlussendlich immer als fruchtbar. „The Neon“ verliert in der zweiten Albumhälfte leider etwas an Drive, aber nach so vielen Jahren des Komponierens kann man es Erasure nicht hoch genug anrechnen, ein derart kurzweiliges und optimistisches Album zu veröffentlichen.

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.



Kostenlose Spiele