Drittes Studioalbum

The Lemon Twigs: Rebellen im echten Indie-Segment

Musik
19.08.2020 06:00

Optisch und musikalisch aus der Zeit gefallen, sind die beiden New Yorker Brüder Brian und Michael D‘Addario aka The Lemon Twigs eine der spannendsten und eigenständigsten Pop/Rock-Bands der Gegenwart. Zwischen Broadway-Theatralik, nicht jugendfreien Lyrics und einer frechen „Leck mich“-Attitüte halten sie den Geist des alten Rock‘n‘Roll hoch - ohne dabei geschäftliche Kompromisse einzugehen.

(Bild: kmm)

Der Terminus „Indie“ war in seiner Grundbedeutung tatsächlich einmal ein Sammelbegriff für alles das nicht bei den großen Plattenfirmen veröffentlicht wurde. Gut 40 Jahre nach dem in England die „Indie Charts“ eingeführt wurden, wurde der Begriff längst mehrfach missbraucht. Indie steht heute vielmehr für ein bewusstes Dagegensein, für eine nach außen hin geglaubte Einzigartigkeit, die sich bei genauerer Betrachtung in Konformität verwandelt. Für eine selbstgebaute Coolness, die so gerne zeitlos wäre und doch nur den gängigen Trends folgt. Die Lemon Twigs stammen aus Long Island in New York und lassen sich nicht von der Pseudobegrifflichkeit vereinnahmen. Sie tragen keine Bärte, sind optisch einem 70er-Jahre Musical entsprungen und könnten in ihrer Alltagskluft Komparsen am Broadway sein. Tatsächlich sind die D’Addario-Brüder Brian und Michael mit Kultur aufgezogen worden, waren Kinderdarsteller und schnupperten schnell in die Filmwelt. Schon früh wurden sie von der Musik in Beschlag genommen.

Klare Richtung
Bei den beiden Rebellen drehten sich aber keine temporär erfolgreichen Momentaufnahmen, sondern die großen Klassiker aus Papas Vinylschrank. Elton John, Moot The Hoople, Jimi Hendrix, Meat Loaf, die B-52s. Als 2015 die limitierte Kassette „What We Know“ in Freundeskreisen verteilt wurde, war Brian 18 und Michael 16 Jahre jung. Ein Jahr später gingen sie mit ihrem Debütalbum „Do Hollywood“ durch die Decke. Support-Gigs für die aufstrebenden Sunflower Bean, Einladungen zu Jimmy Fallon und Conan O’Brien und 2017 auf der Bühne des L.A.-Hipster-Festivals Coachella. Glastonbury, Lollapalooza und Montreux sollten folgen. Die beiden Brüder vermitteln eine angenehm sympathische „Scheißegal-Attitüde“ und verwechseln jugendliche Starrköpfigkeit im Gegensatz zu vielen anderen nicht mit zur schau gestellter Arroganz. Die Lemon Twigs sind cool, indem sie auf gängige Konventionen pfeifen und strikt ihre eigene Richtung gehen. Businessplan my ass!

2018 folgt das ambitionierte Zweitwerk „Go To School“, mit dem sie sich für eine Tour mit den Arctic Monkeys qualifizieren. Das darauf zu findende Konzept? Die Geschichte eines Schimpansen namens Shane, der menschlich aufgezogen wird. Hinter dem vordergründigen Humor verstecken sich bei den damaligen Spät-Teenagern Anflüge von Sozialkritik. Gesellschaftliche Problemstellungen werden aufgeworfen. Auch wenn man auf den Bühnen dieser Welt an The Sweet in ihrer Glam-Blütezeit erinnert, die beiden Burschen wissen ganz genau, dass die Welt nicht nur aus bunten Glitzerfarben besteht. So ist das Drittwerk „Songs For The General Public“, Corona-bedingt mit dreimonatiger Verspätung am Markt, eine Abkehr des Konzeptgedankens und behandelt alltägliche Themen wie Liebe, Beziehungen, Schmerz und Verlust mit einer ungewohnt erwachsenen und reifen Ader, die man den beiden ob ihres desinteressierten Auftretens gar nicht zutrauen würde.

An Lockerheit gewonnen
Doch wie gesagt - bei den Lemon Twigs ist die ironische Komponente eine entscheidende. Nicht zuletzt beim Albumtitel, denn dass sie keinesfalls Musik für die generische Öffentlichkeit machen, das weiß man schon nach den ersten Klängen des vor analoger Wärme nur so triefenden Openers „Hell On Wheels“. Mehr als 60 Songs hätten die beiden angeblich geschrieben, bis man das Material auf die zwölf besten zusammengekürzt hat. „Wir haben das Album analog aufgenommen und das hört man auch deutlich“, erklärt ein müder Michael D’Addario im Telefonat mit der „Krone“, „ich bin ein großer Freund von simplen, relativ geradlinigen Songs. Für mich ist das Album streckenweise fast zu kompliziert, aber Brian tickt da eben anders als ich. Jedenfalls haben wir uns mehr Freiheiten gegeben und Unklarheiten im Songwriting von vornherein beiseitegeschoben. Mit steigendem Alter kommt eine gewisse Lockerheit dazu.“

Brian und Michael schreiben beide an ihren Songs, mischen sie dann zusammen und ziehen das beste aus beiden Welten für das Album heraus. Die brüderliche Beziehung der beiden in Kulturkreisen aufgewachsenen Vollblutkünstler ist eine intime und liebevolle - was in solchen Fällen nicht unbedingt Usus ist. „Natürlich haben wir Meinungsverschiedenheiten, aber wir helfen und unterstützen uns. Wir schätzen die kreativen Ideen des anderen und erarbeiten die Songs zusammen. Brian ist oft in L.A., ich bin in New York, also haben wir genug Pausen voneinander. Freiräume sind wichtig, aber wir haben es immer als Geschenk gesehen, dass wir Brüder sind.“ Die Grundvision der beiden ist ohnehin dieselbe: Nostalgie zu versprühen, ohne die Idole von früher zu stark zu kopieren. „Wir stecken so tief in unserer eigenen Musik, dass ich noch nicht einmal weiß, wie wir klingen. Wenn uns jemand in die 60er- oder 70er-Jahre stecken will, dann bitte. Es ist mir egal. Ich mag den Klang von damals. Die Reverbs, die Wärme, das Echte. Wir machen jedenfalls nichts mit einem bestimmten Vorsatz.“

Definition von Pop
In ihrer eigenen Welt weisen die Lemon Twigs auf „Songs For The General Public“ eine unheimlich breite Stilpalette auf. Die rockige Single „Moon“ klingt wie eine Mischung aus frühem Bruce Springsteen und der Verspieltheit von David Bowie. „Live in Favor Of Tomorrow“ atmet den Geist von Bob Dylan, „The One“ kokettiert mit einer opulenten Broadway-Theatralik und „Ashamed“ beschließt das völlig aus der Zeit gefallene Werk als sanfte Akustikballade. Indie-Pop eben - aber nicht nach der Definition der neumodischen Hipster-Sichtweise. „Es kommt doch immer darauf an, was Pop für einen ist“, erklärt Michael, „unser Vater hat bei unseren ersten extravaganten Songversuchen schon immer gesagt, dass wir Pop machen würden. Wir hätten nie gedacht, dass wir mit dieser Band über die College Radios hinauskommen würden. Wir haben wohl einfach Glück, Mann.“ Ein Glück für uns alle, dass es derartige Stilverweigerer und Rock’n’Roll-Rebellen wie die Lemon Twigs heute noch gibt.

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