Album der Woche

The 1975: Alle Grenzen sind zum Einreißen da

Musik
21.05.2020 06:00

Mehrmals haben die britischen Chartstürmer The 1975 ihr viertes Album „Notes On A Conditional Form“ verschoben, nun erblicken die 22 Songs mit 80 Minuten Spielzeit aber endlich das Licht der Welt. Frontmann Matthew Healy führte uns im Interview durch seinen selbst erschaffenen Pfad der kompositorischen Grenzenlosigkeit.

(Bild: kmm)

Die Zeiten ändern sich. Ein kleines Virus bringt den Atem der Welt ins Stocken, andererseits verbessern sich die klimatischen Bedingungen durch die global erzwungenen Lockdown-Maßnahmen nachweislich enorm. Muss der Mensch wirklich zu seinem Weiterbestehen gezwungen werden? Kann man diesen Planeten nur noch dadurch retten, dass man uns die nötige Vernunft pandemisch einhämmert? Diese und ähnliche Gedanken macht sich Matt Healy schon lange. Schon vor Jahren propagierte der Frontmann von The 1975 in Interviews, dass er als Prominenter an der Spitze jener stehen möchte, die einen sichtbaren Unterschied machen. Nun präzisierte er, was man als Band nach dem Ende der Corona-Isolation machen könne. Etwa Konzerte untertags spielen, um Licht und Strom zu sparen. Auf Plastik und Fleischgerichte verzichten die Briten ohnehin schon länger und am Opener des neuen Albums „Notes On A Conditional Form“ hört man die junge Klimaaktivistin Greta Thunberg fünf Minuten lang über das Leid der Welt referieren.

Alles ist erlaubt
The 1975 sind die etwas andere Band des Mainstreams. All ihre bisherigen drei Alben landeten in Großbritannien auf Platz eins der Charts und in einer Welt, die eigentlich nur mehr aus gelackten Popstars, Rappern und kurzlebigen Social-Media-Wundern besteht, haben sich Healy und Co. quasi im Alleingang zur jüngsten und einzigen großen Band des Mainstreams gewandelt. „Notes On A Conditional Form“ ist nun die Krönung ihres überbordenden Selbstvertrauens. 22 Songs oder 80 Minuten der puren Abwechslung. Punk-Rock, New Wave, Bubblegum-Pop, Samples, Rock, Indie, Soul-Ausflüge, Hip-Hop, Dream Pop - alles ist erlaubt, nichts ist verboten. Im Zeitalter des Streamings sind aber auch nur mehr zwei Drittel der Songs neu, denn nicht weniger als acht Singles haben Healy und Co. bereits seit 2018 in den Orbit geschossen. Mit dem Songwriting begann man teilweise schon quer zum letzten Werk „A Brief Inquiry Into Online Relationships“, doch 90 Prozent des Albums seien danach und frisch entstanden, erzählt Healy der „Krone“ im Interview.

„,Notes On A Conditional Form‘ ist sicher das abstrakteste Album unserer bisherigen Karriere“, fügt er hinzu, „wir waren schon immer sehr experimentell, aber hier haben wir es an die Spitze getrieben. Viele Künstler sind sehr stark an ein gewisses Genre gebunden, wir aber nur an die Melodie. Die kann manchmal nach einem Jazzstück von John Coltrane und manchmal elektronisch wie bei LCD Soundsystem klingen, aber mir ist es wichtig, immer die Schönheit von Dur-Kompositionen im Blick zu haben.“ Mehr als alle anderen Bands treffen The 1975 schon seit jeher den Zeitgeist. Die im 2018er-Werk angesprochenen „Online Relationships“ wurden in der Corona-Isolation zur traurigen Wahrheit, die stets aus dem eigenen Leben gegriffenen Texte Healys schaffen es stets, Nostalgie und Zeitgeist gleichermaßen zu umarmen. „Ich bin überzeugter Nostalgiker und liebe die Dinge, die ich früher erschaffen habe. Ich mag es, retrospektiv zu sein.“

Romantische Gedanken
The 1975 haben sich in nur wenigen Jahren vom Insidertipp zur Stadionband gespielt. Für Healy kein Zufall. „Heute 21-Jährige waren 15, als wir unser Debüt veröffentlichten und wir haben heute viele Altersschichten im Publikum, weil wir mittlerweile eine gewisse Relevanz im Musikbusiness haben. Diejenigen, die schon damals da waren, wollen diese nostalgischen Momente aus ihrer eigenen Vergangenheit bei unseren Gigs wiederaufleben lassen, andere erschaffen sich heute mit den neuen Songs die Basis für eine zukünftige Nostalgie.“ Healy wollte ursprünglich schon das letzte Album „Music For Cars“ nennen (wie eine frühe EP), hat diese Idee zugunsten anderer Titel mittlerweile mehrmals verworfen. Die Idee dahinter bleibt aber dieselbe. „Der Gedanke ist einfach romantisch. Die schönsten Zeiten meiner Jugend verbrachte ich Weed rauchend im Auto oder in unbesetzten Häusern. Ich habe in der Kindheit viel Soul gehört und bin später stark in die UK-Dance-Musik-Szene gerutscht. Das neue Album ist ganz klar eine Hommage an diese Zeit in meinem Leben, denn sie hat mich für immer geprägt.“

The 1975 auf ihrem vierten Album zu folgen, verlangt dem Hörer Offenheit und die Bereitschaft für Veränderung ab. Im Prinzip komponieren Healy und sein bester Freund, Drummer und Ko-Produzent George Daniel exakt so, wie junge Menschen heute Musik hören: divers, vielseitig, schnell in den Gehörgängen festhakend, zeitgemäß und vor allem stilbrechend. Da haben wir das elektronische Discostück „Shiny Collarbone“ mit Dancehall-Star Cutty Ranks, anarchischen Brit-Punk („People“), orchestrale, an Disney gemahnende Interludes wie bei „The End (Music For Cars)“ oder straighten, fast schon Huey-Lewis-lastigen Indie-Pop bei „If You’re Too Shy (Then Let Me Know)“. Auch FKA Twigs und Phoebe Bridgers machen mit. Immer, wenn man das Gefühl hat, man könnte die Band gerade fassen, schlängelt sie sich behände und flink aus dem Zugriff, um sich wieder völlig neu zu positionieren. Ein wilder Ritt durch alle Jahrzehnte seit den 70er-Jahren, der irgendwie wirkt, als würde man online eine Vierteltelefonapp aktivieren. Große, weltliche Themen verknüpfen sich mit kleinen Geschichten aus Healys Alltag. „Wichtig ist mir immer, die Musik keinem selbstauferlegten Stress zu opfern“, erklärt er bestimmt, „das Album ist einfach eine Reaktion auf unsere Umwelt und unsere Kultur.“

Von Künstlern besessen
„Notes On A Conditional Form“ haben The 1975 insgesamt dreimal verschoben. Zuerst, um den Inhalt zu perfektionieren, dann um die schlimmste Phase der Corona-Krise zu umschiffen. Irgendwann war aber auch das letzte Rausschieben der Veröffentlichung verbraucht, der Geduldsfaden der abertausenden Fans überspannt. Die kaum greifbare Vielseitigkeit des Albums ist auch dem Fakt geschuldet, dass Healy laut Eigenbekunden noch mehr Fan als Musiker ist. „Ich bin seit jeher besessen von anderen Künstlern. Fan zu sein ist meine wahre Berufung. Im Endeffekt ist das auch der Grund, warum unsere Musik so viele Referenzen aufweist. Ich sauge die Musikkultur auf wie einen Schwamm. Ich habe mir immer überlegt, wo wir nach drei Alben stehen, weil das auch bei anderen Bands spannend zu beobachten ist. Ich weiß mittlerweile, warum Springsteens ,Nebraska‘ so klingt wie es klingt, versuche dann aber immer eine Überleitung zu uns zu finden. Kleiner Fingerabdrücke sozusagen.“

Die Band selbst sieht Healy am liebsten als Radiohead für eine neue Generation. Vom kompositorischen Mut und der Fuck-Off-Attitüde der Thom-Yorke-Truppe sind The 1975 - mit Verlaub! - trotz der angesprochenen Variabilität aber noch weit entfernt. Vor allem deshalb, weil Radiohead auch Mut zur musikalischen Hässlichkeit zeigen und den Hitfaktor zugunsten künstlerischer Verschrobenheit wesentlich weiter zurückschrauben, als es das Quartett aus Manchester tut. „Radiohead waren durch ihren Sound für mich immer Außerirdische und ich will das mit unserer Band auch sein. Natürlich waren sie der wohl größte Einfluss auf unseren Sound. Bei ihnen musste man immer das Unerwartete erwarten. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, denn wir mit ihnen oder David Bowie teilen. Es ist mir aber auch wichtig, dass sich immer eine gewisse Art von Tribalismus durch unseren Sound zieht.“

The New Mancunians
Die Liebe zur Musik im Allgemeinen und dem Sound seiner Band im Speziellen hat Healy ohnehin schon sehr früh begründet. Auch wenn ihm trotz aller stilistischen Sprunghaftigkeiten eine gewisse Kohärenz wichtig ist. „Am Debütalbum waren wir noch etwas naiv, das hört man deutlich heraus. Jeder Song klingt bei uns auf jedem Album anders, das ist mir besonders wichtig. Es ist nicht so, dass wir früher eine Rockband waren und heute Pop und Reggae machen. Wir spielen kein Sepultura-Riff nach einem Teil, der nach Bob Marley klingt. Auch wenn wir musikalisch bunt aufgestellt sind, muss im Endeffekt alles einen gewissen Sinn ergeben.“ Und schließlich lastet auch die Manchester-Szene schwer auf den Schultern der jungen Männer. „Jede Band von dort wird unweigerlich mit Joy Division und New Order assoziiert. In den 80er- und 90er-Jahren war Manchester der Nabel der Popwelt, danach kam aber nichts mehr. Wir sind die erste richtige Manchester-Band seit Oasis. Sie waren die letzten, die von dort aus etwas Originäres erschaffen haben. Jetzt sind wir dran und das ist sehr cool.“

Wenn alles gut geht, dann kann man The 1975 mit neuem Material und allen Hits am 23. Oktober im Wiener Gasometer sehen.

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