Album „Cerecloth“

Naglfar: Wenn der Teufel ein normaler Mensch ist

Musik
08.05.2020 06:00

Im Melodic-Black-Metal-Segment sind Naglfar seit Jahrzehnten eine Institution. Mit „Cerecloth“ melden sich die Schweden nach acht Jahren Abwesenheit tatkräftig zurück und erklären uns im Interview, warum die Band keine Hauptpriorität in ihrem Leben hat und sich ein Theologiestudium mit satanischen Ansichten vereinen lässt.

(Bild: kmm)

Die allgemeine Ansicht über Black-Metal-Musiker aus dem Querschnitt der Bevölkerung ist mit „fatal“ noch restlos untertrieben. Jungfrauenblut trinkende, Kinder schlachtende und rund um die Uhr Beelzebub anbetende Schergen des Untergrunds seien sie, die schwer tätowierten Musiker mit akkurater Glatze oder wild wehender Mähne, die ihr eng am Körperfleisch anliegendes Leder mit Nieten und Spikes behängen, so als wären sie selbst ein diabolischer Weihnachtsbaum. Dass sich unter diesen instabilen Genossen des Fegefeuers aber durchaus auch normal tickende Mitglieder der Gesellschaft befinden, deren Hobby statt des Fußballspielens oder Heimgartelns eben einfach ein überladendes Klischeeausladen auf kleinen Undergroundbühnen ist, überrascht das Establishment immer wieder aufs Neue.

Andere Prioritäten
Naglfar-Frontmann Kristoffer W. Olivius etwa betreibt seine über Satan, das Böse und die Misanthropie referierende Band seit mittlerweile 1992 und kann sich in seiner nordschwedischen Heimat trotzdem wie ein ganz normaler Mensch bewegen. „Cerecloth“ ist das erste Album der Szene-Aushängeschilder seit acht Jahren. Eine selbst für den Metal, wo die Fans aus Loyalität ohnehin nicht ständig Neues erwarten, unheimlich lange Zeitspanne, die vielen anderen Combos das Karrieregenick brechen könnte. Olivius und seine beiden getreuen Mitstreiter Andreas Nilsson und Marcus E. Norman haben aber ein gesundes Verhältnis zu ihrer Spielwiese und stellen andere Dinge in den Vordergrund. Olivius etwa hat sich dafür entschlossen, das Aufwachsen seiner beiden Kinder zu begleiten und die Band daher auf ein Minimum zurückzufahren. „Wir haben eben andere Prioritäten im Leben“, diktiert er der „Krone“ im Interview, „wir gehen auch nicht groß auf Tour, sind meist nur zwei, drei Tage für Einzelshows weg und fliegen wieder heim. Das hat sich schon seit Jahren so bewährt.“

Livekonzerte sind zwar jetzt und bis auf Weiteres nicht möglich, doch keiner Band wird es ähnlich egal sein wie Naglfar. Alle drei Bandmitglieder stehen beruflich voll im Leben und sind mit keiner Faser auf Einkünfte aus der Band angewiesen. Dass nun acht Jahre seit „Téras“ vergangen sind, hat also nichts mit einem Comeback zu tun. „Uns war nebenbei auch immer wichtig, dass die Band total frei und unabhängig ist. Wir freuen uns über all die tollen Fans, aber sie sollen auch verstehen, dass die Realität nicht immer malerisch ist. Wir gehen den ehrlichen Weg. Auch der Metal ist stark an die Musikindustrie gebunden und die Szene ist voll von Blendern, die keine Ahnung von der Kunst haben. Das Spielen gerät oft in den Hintergrund und andere Dinge werden als wichtiger dargestellt. Du musst Verträge unterschreiben, wo du sogar Anteile an deinem Merchandise abgeben musst. Das ist eine große Schande und für uns nicht vertretbar. Deshalb auch die völlige Unabhängigkeit.“

Akkurate Beharrlichkeit
„Cerecloth“ ist keine musikalische Überraschung und soll es wohl auch nicht sein. Sämtliche Trends und Marktmechanismen ignorierend, holzen Naglfar melodischen Black Metal mit Death-Metal-Schlagseite herunter, der vor allem an die gottgleichen Dissection und Lord Belial oder Sacramentum - allesamt große Schweden-Bands - erinnert. Songs wie „Vortex Of Negativity“, „Necronaut“ oder „The Dagger In Creation“ machen da keine Ausnahme. Beharrlichkeit also auch hier - und das kompositorisch und produktionstechnisch auf gewohnt höchstem Niveau. „Prinzipiell proben und schreiben wir noch immer gemeinsam“, verrät Gitarrist Nilsson, „durch die Kinder und die Jobs ist aber schwieriger, sich dauernd zu treffen, weshalb wir dann schon sehr akkurat üben müssen.“ Da man keinen Zeitstress kennt und auch die Fans langes Warten gewohnt sind, ergibt sich schlussendlich eine für alle Parteien komfortable Situation.

Freundschaft, Familie und ein geregeltes Arbeitsleben als Kern für ein funktionierendes Bandprojekt. Nicht immer war das so austariert. Mit „Vittra“ (1995) und „Diabolical“ (1998) gelangen Naglfar in der Frühzeit der Band zwei noch heute verehrte Top-Alben, die auch den damaligen Zeitgeist trafen. Doch schon zu der Zeit, mit dem in Insiderkreisen noch heute vermissten Ur-Sänger Jens Rydén, war sich nicht jeder in der Band so sicher, ob er alles in die Waagschale werfen sollte, weshalb der ganz große Durchbruch schlussendlich nicht gelang. Line-up-Wechsel, Diskussionen, zu lange Wartezeiten, nicht angenommene, wichtige Tourangebote - Uneinigkeit verhinderte Größeres. „Anfang der 90er-Jahre gab es für uns nichts anderes als die Band“, erinnert sich Nilsson, „es ist aber auch gut, dass wir mittlerweile reflektierter bei der Sache sind.“ Wichtig sei ihnen die Band immer noch, betonen sie unisono, nur ist sie nicht mehr das Zentrum des Daseins.

Satan und Theologie
Den großen Durchbruch - sofern man in der Extreme-Metal-Szene überhaupt von so etwas sprechen kann - werden Naglfar auch mit „Cerecloth“ nicht schaffen. Ein schönes Zurückkommen und Aufzeigen ihrer hohen Songwritingqualitäten ist das ambitionierte Werk aber allemal. Das Deibeln auf hohem Niveau beherrschen die Schweden eben auch noch nach fast 30 üppigen Karrierejahren. Apropos Deibeln - Olivius hat die Auszeit mit seinen Kids auch dafür genutzt, vier Jahre lang Theologie zu studieren. Relativ ungewöhnlich für jemanden, der sich in seinem Hobby vornehmlich mit den dunklen Mächten der Welt befasst. Erkenntnisse und Horizonterweiterungen hat Olivius auch erfahren, ohne sich dem Glauben zu verschreiben, der nicht in sein Lebenskonzept passt. Eine offene und tolerante Haltung, die man sich auch umgekehrt gerne öfters wünschen würde ...

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