Lost in Isolation

Wie kann man es noch immer nicht begriffen haben?

Lost in Isolation
13.04.2020 17:25

Nach auf den Tag genau vier Wochen habe ich zum ersten Mal das Grundstück verlassen. Der Grund: Osterhase spielen und den in der Nähe wohnenden Freunden der Kinder Osterkarten und ein selbst gefärbtes Ei vor die Tür legen. „Juhu, nach einer Woche dürfen wir endlich raus!“, jubelt die Große. Was würde ich manchmal für das Zeitgefühl von Kindern geben … Es hat sich komisch angefühlt, nach einem Monat spazieren zu gehen. Vor allem: Der Spaziergang führte den Weg entlang, der uns normalerweise zum Spielplatz führt, unserem zweiten Wohnzimmer.

Fast jeden Tag nach Büro, Kindergarten und Schule sind wir dort in Nicht-Corona-Zeiten anzutreffen. Selbst Geburtstage werden dort gefeiert, denn wo sonst könnten sich die Kinder so austoben wie auf dem weitläufigen Stück Kinderhimmel mit angrenzendem Wald? Riesige Bäume spenden Schatten - selbst im Hochsommer ist es dort gefühlt um fünf Grad kühler als im restlichen Ort. Das Wasser eines Brunnens, in dem die Kinder auch ein bisschen planschen können, sorgt zusätzlich für Abkühlung und verleiht Sandburgen - und Hosen und T-Shirts, die nach getaner Bau-Arbeit von alleine stehen - den besonderen Halt.

Im Spätsommer und Herbst sind neben dem Spielplatz die Kühe des Dorfbauern anzutreffen und erfreuen von September bis Anfang November die Kinderherzen, vor allem weil immer auch ein paar Kälbchen dabei sind. Im Winter kann man auf dem Hügel Bob fahren - und für eine Freundin hat der Frühling erst dann angefangen, wenn sie ihre nackten Zehen in den Sand des Beachvolleyballplatzes stecken kann. Heuer muss sie länger drauf warten, denn der Spielplatz ist gesperrt. Rot-weißes Flatterband weht um die nicht durch den Zaun eingegrenzte Derzeit-nicht-Spielfläche. Es fühlt sich komisch an, dort vorbeizugehen.

Oder am Kindergarten. Dort haben die Pädagoginnen aus Papierschlangen einen Regenbogen an die Fensterfront geklebt, daneben prangen die Worte „Bleibt gesund!“ und „Wir vermissen euch!“. Ich muss kurz schlucken.

Als wir weitergehen, treffen wir eine Mitarbeiterin der örtlichen Kinderkrippe, die beide meiner Kinder betreut und vor Kurzem selbst ein Baby bekommen hat. Undenkbar, kurz in den Kinderwagen zu schauen, um den bestimmt süßen Neuankömmling auf der Welt zu begrüßen. Wir gratulieren aus der Ferne.

Auf der Hauptstraße allerdings ist die gleiche Frequenz an Autos wie auch sonst an einem Karsamstag bzw. einem Samstag, an dem viele auf Urlaub sind. Was sie normalerweise ja auch wären, in Nicht-Corona-Zeiten. Würden nicht in vereinzelten Fahrzeugen Menschen mit Mund-Nasen-Schutz sitzen oder Fußgänger teils panisch auf die Seite springen, wenn eines meiner Kinder zehn Zentimeter ausschert, würde ich nicht merken, dass derzeit alles anders ist als sonst. Da sitzt ein Teenager mit einem Freund Seite an Seite auf dem Tisch der Picknickgruppe neben dem abgesperrten Spielplatz und hört Musik, dort tratschen jugendliche Freundinnen beim Spaziergang und dort drüben fährt die siebenköpfige Männergruppe auf Rennrädern vorbei. Ich ertappe mich bei den Gedanken „Auseinander!“ und „Ihr wohnt aber sicher nicht alle zusammen in einem Haushalt!“.

Als in einem gerade eingeparkten Auto eine Frau bei offener Tür lauthals zu husten beginnt, bin ich es, die froh ist, dass wir auf der anderen Straßenseite sind.

Eine Freundin ist mit ihren Kindern im Garten. Wir bleiben einen Meter vom Gartentor entfernt stehen und wünschen einander frohe Ostern, die Großen zeigen sich gegenseitig die neuesten Zahnlücken. Wie es ihnen geht, frage ich sie. Es geht. Sie ist Krankenschwester, arbeitet derzeit in einer Arztpraxis. Ihr Mann kann seinen Job von daheim aus erledigen und in den Zeiten, in denen sie im Dienst ist, auf die Kinder schauen - und den Kleinen bei ihrer Ankunft zu Hause so lange von ihr fernhalten, bis sie sich umgezogen hat und ihn gefahrlos in die Arme nehmen kann. Es ist mitunter ein Kampf, denn der noch nicht ganz Dreijährige kann es noch nicht richtig verstehen, warum die Mama ihn nicht gleich begrüßt, wenn sie zur Tür reinkommt und er sich doch so freut, sie zu sehen.

Sie arbeitet mit Maske und Visier, um sich zu schützen. Auch wenn sie nicht im Krankenhaus Dienst tut, braucht sie den Schutz. „Weißt du?“, fragt sie mich und erzählt: „Es kommen Patienten in die Ordination, mit typischen Symptomen, und sie stehen vor mir und sagen, sie haben nix.“ Leute mit Fieber, die zudem schlecht Luft bekommen, behaupten, sie wüssten nicht, dass sie sich in diesem Zustand nicht in ein Wartezimmer setzen, sondern vorher anrufen sollen, ob sie kommen dürfen. Leute, die die drei entsprechenden Schilder vom Eingangsbereich des Gebäudes bis hin zur Tür der Ordination angeblich „nicht gesehen“ hätten. „Aber wenn ich schon mal hier bin …“, würden sie dann sagen - und die Freundin und ihre Kollegen in Zugzwang bringen, auch wegen der Patienten, die wegen Schulterschmerzen oder Ähnlichem und nach Vorankündigung in die Praxis kommen durften. „Wie kann es sein, dass die noch immer nicht wissen, worum es geht?“, fragt sie mich.

Ich kann es ihr nicht beantworten. Ich kann auch nicht verstehen, dass nach vier Wochen bundesweiten Ausgangsbeschränkungen, geschlossenen Geschäften, Einschaltungen des Gesundheitsministeriums im Fernsehen, den Zeitungen sowie im Internet und Nachrichten, die voll von dem weltweit alles beherrschenden Thema sind, es Menschen gibt, die noch immer nicht wissen, wie sie sich in der derzeitigen Krise verhalten sollen, die es offenbar noch immer nicht begriffen haben.

Lost in isolation: Der Großteil unserer Redaktion befindet sich derzeit zu Hause und muss sich - wie alle im Land - in einem völlig neuen Alltag zurechtfinden. Die Herausforderung, Job, Familie und Privatleben unter einen Hut zu bringen, hat eine neue Dimension erreicht. Unsere Erfahrungen und Gedanken zu dieser neuen Realität wollen wir unseren Lesern nicht vorenthalten: krone.at lost in isolation. Alle Artikel unserer Serie finden Sie hier!

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.



Kostenlose Spiele