Parallelen zu Corona

Tschernobyl, April 1986: Wenn Frühling verstummt

Österreich
13.04.2020 06:00

April 1986: der radioaktive Regen nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl - als Kinder und Schwangere nicht ins Freie durften. März 2020: die weltweite tödliche Corona-Seuche - Österreich auf Minimalbetrieb.

„Raus aus den Sandkisten! Alle Kinder ins Haus!“ Dramatisch klingt der flehentliche Appell von Physiker Dr. Friedrich Steinhäusler an diesem Apriltag im Radio. Immer und immer wieder wird er gesendet. Die Messungen des Universitätsprofessors haben alarmierende Werte ergeben: Caesium mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren.

Am 26. April 1986 begann die Katastrophe
In Tschernobyl ist am 26. April 1986 der Block 4 des Atomkraftwerkes explodiert. Eine Wolke schwebt Richtung Westen, nach Österreich. Mütter organisieren sich, vor allem in den hauptbetroffenen Bundesländern. Sie besorgen unverstrahlte Milch, direkt von den klugen Bauern, die ihre Kühe in die Ställe getrieben haben, sie verlangen den Austausch des Sandes auf den Spielplätzen. Eine gespenstische Ruhe entsteht. Leere Parks. Wenig Spaziergänger. Es sollte 34 Jahre später so ähnlich sein ...

Video: So kam die Todeswolke 1986 über Österreich

Bewegung gegen Atom-Wahnsinn
Dann bildet sich eine Bewegung. Gegen den Atom-Wahnsinn. Gegen Wackersdorf, die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Bayern, welche Salzburg bedroht. Gegen Temelín, das marode Kernkraftwerk in der Tschechoslowakei, das im GAU-Fall, dem größten anzunehmenden atomaren Unfall, Oberösterreich verstrahlen würde.

Mütter gegen Atom. So nennen sie sich, und einige Monate später marschieren Tausende mit Transparenten über die Grenze: gegen Wackersdorf, gegen diese verhasste WAA, wie sie von den Bayern im Abkürzungswahn genannt wird. Unterstützt werden sie von der „Krone“.

Kinder an die Macht! So nennt die Redaktion ihre Kampagne, nach dem Welthit von Liedermacher Herbert Grönemeyer. Die heimische Politik? „Wir lassen uns den Mai-Aufmarsch net verderben!“, beharren die Genossen um Kanzler Fred Sinowatz, und so marschieren Zehntausende wenige Tage nach dem Atomunfall über den Wiener Rathausplatz. Freundschaft!

Wilfried Haslauer sen., Landeshauptmann von Salzburg, spricht lange mit Steinhäusler, lässt sich überzeugen und handelt mutig: Er beschließt mit seiner Landesregierung einen offiziellen juristischen Einwand gegen Wackersdorf. Die Bayern kapitulieren. Heute steht in Wackersdorf eine Fabrik für Solarzellen.

Europaweit 4000 Tote als Spätfolge
Die WHO errechnet später in einer Tschernobyl-Studie europaweit 4000 Tote als Spätfolge, vor allem durch Schilddrüsenkrebs und Leukämie. Kritische Mediziner stellen in verschiedenen Regionen eine auffallende Häufung der Erkrankungen fest, „Krebs-Inseln“ auf der Landkarte. Die Politik lässt Jod-Tabletten für den nächsten Ernstfall lagern, und das Argument von der statistischen Schwankungsbreite beendet die Diskussion. Friedrich Steinhäusler ist in drei Sicherheitsgruppen für die NATO tätig und arbeitet am Projekt CAST für die EU: Simulation von Angriffen mit nuklearen, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen.

Ballhausplatz 2, Bundeskanzleramt. Die Kommandozentrale Österreichs seit 1717. Eine historische Adresse. Lukas von Hildebrandt errichtet das Gebäude. Fürst Kaunitz, Reformkanzler unter Kaiserin Maria Theresia, regiert hier. Fürst Metternich wohnt gleich mit seiner ganzen Familie am Ballhausplatz.

Hermann Göring brüllt Schuschnigg nieder
1934 erschießt ein Kommandotrupp von illegalen Nazis den Ständestaat-Kanzler Engelbert Dollfuß. Im März 1938 brüllt Reichsmarschall Hermann Göring den verunsicherten Kanzler Kurt Schuschnigg am Telefon nieder, der gibt auf, und der Einmarsch der Hitler-Truppen beginnt. 1945 findet man einen Zettel beim durch Bombentreffer zerstörten Kanzleramt: Alle Beamten sollten sich wieder an ihren Arbeitsplatz begeben.

Dramatische Situation 1968
Im August 1968 ruft Kanzler Josef Klaus „Krone“-Herausgeber Hans Dichand ins Kanzleramt. Die Sowjets planten nach der Besetzung der Tschechoslowakei einen Durchmarsch durch den Raum Niederösterreich und Steiermark nach Jugoslawien. Er, Klaus, plane die Verlegung der Regierung nach Zell am See, denn dort fühle sich der frühere Salzburger Landeshauptmann sicher. Dichand kommt zurück in die Redaktion und schreibt einen Kommentar gegen die Sowjets. Die „Krone“ bleibt im Pressehaus am Donaukanal. Die Amerikaner drohen den um Pressburg zusammengezogenen Sowjet-Einheiten über diplomatische Kanäle mit einem begrenzten Atomschlag. Daraufhin geben die Machthaber aus dem Kreml ihre Pläne auf.

1972 winkt „Karli der Große“ vom Balkon: Nach seinem Ausschluss von den Olympischen Spielen jubeln Zehntausende dem Skihelden zu. In diesen Tagen berichtet die Skilegende per Internet aus seiner Quarantäne im gesperrten Arlberg-Gebiet, wo die Ärzte-Kongresse stattfinden, freundlich unterstützt von der Pharmaindustrie.

Frühling 2020: Wieder ist kaum ein Kinderlachen zu hören
Ballhausplatz 2. Im beginnenden Frühling 2020. Die Lichter hinter den großen Fensterflügeln gehen nicht aus. Drei Stunden Schlaf genügen dem jungen Kanzler. Sebastian Kurz setzt sich gegen gierige Touristik und unbedarfte Provinzpolitiker durch. Die Republik wird auf Minimalbetrieb heruntergefahren. Es sei die einzige Chance gegen das Coronavirus, das noch mehr Menschen Krankheit, Leid und den Tod bringen kann, wenn nichts geschieht, wie es Kurz in seiner grandiosen Ansprache an die Nation formuliert.

Die Worte werden wohl in die Geschichte eingehen. In Österreich wird es still und ruhig, kaum ein Kinderlachen ist zu hören, die Spielplätze sind leer. So wie im stummen Frühling 1986.

Hans Peter Hasenöhrl, Kronen Zeitung

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