366 Tote in Italien

„Nicht mal im Krieg gab es so viele Restriktionen“

Ausland
08.03.2020 18:37

„Wir gehen nicht ins Fitnessstudio, zur Schule oder einfach nur laufen. Wir bleiben soweit wie möglich im Haus“, schreibt uns ein Bekannter aus Padua. Er macht sich große Sorgen um seinen Vater, der Krebs hat und operiert werden muss. „Es ist sehr gefährlich für unsere Alten. Wir sind in der Roten Zone.“ Für die Betroffenen in der Sperrzone in Norditalien hat sich das Leben komplett geändert und die Angst ist gar nicht so einfach abzuschütteln. Der Süden geht mittlerweile gegen „Quarantäne-Flüchtlinge“ vor, die staatliche italienische Airline Alitalia stellt ab Montag den kompletten Flugbetrieb auf dem zweitgrößten Flughafen des Landes, Mailand-Malpensa, ein. Die Zahl der am Coronavirus gestorbenen Menschen erreichte am Sonntag 366, in der Lombardei allein starben innerhalb eines Tages mehr als 100 Menschen.

„Ich glaube, nicht einmal in Kriegszeiten oder während des Terrors hat es so starke Restriktionen für das Leben den Menschen gegeben“, sagt auch Andrea Cortesi, der mit seiner Familie in der norditalienischen Stadt Reggio Emilia lebt, am Sonntag gegenüber der APA am Telefon.

Große Ungewissheit
In den seit Sonntag abgeriegelten italienischen Provinzen herrscht große Ungewissheit. „Wir versuchen gerade zu verstehen, was das konkret bedeutet, und wir haben überhaupt keine Ahnung, was morgen passieren wird“, sagt der 44-Jährige. Bisher hat sich unser Leben nur wenig geändert, „aber ich denke morgen wird alles anders, unser Leben wird sich zu 90 Prozent verändern“. Die Familie bleibt zu Hause oder geht spazieren, „aber nicht dahin, wo viele Leute sind“. Die Kontakte beschränken sich auf die Familie, Freunde treffen sie keine mehr.

„Den Einkauf bestellen wir über das Internet, damit wir nicht in den Supermarkt müssen“, erzählt Cortesi. „Aber ich habe keine Ahnung, ob das Gemüsekistchen, das wir sonst wöchentlich von einer Genossenschaft vor die Haustür bekommen, diese Woche auch geliefert wird.“ Überhaupt werde sich erst Montagfrüh herausstellen, was die neuen Regeln wirklich bedeuten. „Wie wird das funktionieren die nächsten vier Wochen? Wer wird zur Arbeit erscheinen?“, fragt er.

„Lebensweise komplett ändern“
Cortesi selbst kann nicht an seinen Arbeitsplatz in Bologna, da dieser außerhalb der Roten Zone liegt. Die Provinz Reggio Emiglia ist seit Sonntag abgeriegelt. Seine Frau Francesca, die fürs Jugendamt arbeitet, weiß noch nicht, ob sie morgen in die Arbeit gehen muss. Es gab bisher keine Informationen, wie die Arbeit, zu der auch Kundenkontakt und Hausbesuche gehören, weitergeführt wird. Bereits bisher waren die Schulen und Kindergärten in der ganzen Region Emilia Romagna geschlossen, die Großeltern kümmerten sich daher um die beiden Kinder der Familie.

„Die Botschaft der Regierungsmaßnahmen war klar: Wir müssen unsere Lebensweise komplett ändern“, meint der 44-jährige Angestellte. Sorgen mache er sich hauptsächlich um die Großeltern. „Wir selbst haben keine Angst, es ist nicht Ebola, sondern eher wie eine Grippe.“

Revolten in Gefängnissen
In den Gefängnissen Norditaliens wird die Quarantäne nicht goutiert. Am Sonntag gab es gewaltsame Proteste in den Strafanstalten von Modena und Frosinone südlich von Rom. In Modena steckten Gefängnisinsassen einige Gegenstände in Brand.  Die Gefängnisinsassen protestierten damit gegen den Regierungsbeschluss, Besuche von Angehörigen als Maßnahme zur Eingrenzung der Coronavirus-Epidemie auszusetzen. Ähnliche Proteste gab es in Frosinone.

Süditalien stellt Personen aus der Sperrzone unter Quarantäne
Die süditalienischen Regionen ergreifen unterdessen Vorsichtsmaßnahmen, um eine Ausbreitung der Coronavirus-Epidemie zu verhindern. Personen, die die Sperrzone in Norditalien verlassen haben und nach Kampanien, Sizilien und Basilikata reisen, müssen sich einer zweiwöchigen Heimquarantäne unterziehen, beschlossen die Präsidenten der drei süditalienischen Regionen.

Die Präsidentin Kalabriens, Jole Santelli, sagte, die Einrichtung einer Sperrzone in der Lombardei und in anderen norditalienischen Provinzen hätte zu einem „Exodus“ in Richtung Süditalien geführt. „Wir sind besorgt. Die ungeregelte Heimkehr vieler Bürger aus Norditalien bringt unsere Region in Gefahr“, betonte Santelli.

Zitat Icon

Wir sind besorgt. Die ungeregelte Heimkehr vieler Bürger aus Norditalien bringt unsere Region in Gefahr.

Kalabriens Präsidentin Jole Santelli

Die Region Kampanien hat inzwischen die archäologischen Ausgrabungen von Pompeji geschlossen, die jährlich von Millionen Touristen besucht werden. Bis zum 3. April soll das Gelände unweit des Vesuvs geschlossen bleiben. Alle Museen sind ab dem Sonntag in Italien als Vorbeugungsmaßnahme gegen die Coronavirus-Epidemie gesperrt.

Kinos, Theater, Museen geschlossen
„Seit heute sind in Italien Kinos, Theater und Museen geschlossen. Das ist eine schmerzhafte, aber notwendige Maßnahme, die wir im Namen der öffentlichen Gesundheit ergreifen mussten“, sagte Kulturminister Dario Franceschini. Die öffentlich-rechtliche TV-Anstalt RAI bemühe sich, in den nächsten Tagen verstärkt Kulturprogramme zu senden.

Noch am Sonntag rief die Regierung in Rom dann alle einheimischen und ausländischen Touristen zum Verlassen der Quarantäne-Zonen in Norditalien auf. In den betroffenen Regionen sollen Reisen aus touristischen Gründen vermieden werden, hieß es in einem Schreiben des Verkehrsministeriums. Flughäfen und Bahnhöfe seien offen, Touristen könnten somit nach Hause zurückkehren, hieß es in dem Dokument. Touristen in anderen Regionen Italiens sollten sich an die Vorsichtsmaßnahmen der italienischen Gesundheitsbehörden halten.

Alitalia stellt Flugbetrieb in Mailand ein
Die italienische Flugbehörde ENAC teilte inzwischen mit, dass alle Flughäfen in der norditalienischen Sperrzone offen und funktionsfähig seien. Auch die Züge auf der Nord-Süd-Achse verkehren nach Plan, teilte die italienische Bahngesellschaft FS mit. Allerdings war am Sonntagnachmittag zu erfahren, dass die staatliche italienische Fluggesellschaft Alitalia ab Montag den kompletten Flugbetrieb auf dem zweitgrößten Flughafen des Landes, Mailand-Malpensa, einstellt. Am Montagvormittag werde mit einer Maschine aus New York das letzte Alitalia-Flugzeug auf dem größten Flughafen der norditalienischen Wirtschaftsmetropole landen, hieß es.

Alitalia reduzierte zugleich den Flugbetrieb auf dem kleineren Mailänder Flughafen Linate und jenem Venedigs. Von Linate werde es nur noch nationale Flüge geben. Internationale Destinationen werden nur noch über Rom erreicht werden können. Auch aus Venedig werde es nur noch wenige Verbindungen geben. Den betroffenen Passagieren bietet die krisengeschüttelte Fluglinie eine kostenlose Umbuchung bzw. Stornierung an.

WHO begrüßt drastische Maßnahmen
So sehr das Leben der Italiener eingeschränkt ist, so wichtig ist die Quarantäne: Die Weltgesundheitsorganisation WHO begrüßte die drastischen Quarantäne-Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Diese seien „mutig“ und erforderten „wirkliche Opfer“, betonte WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus am Sonntag im Online-Dienst Twitter.

„Die Regierung und die Menschen in Italien ergreifen gewagte und mutige Maßnahmen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen und um ihr Land und die Welt zu schützen“, sagte der WHO-Chef. In der Nacht auf Sonntag hatte die Regierung in Rom ein grundsätzliches Ein- und Ausreiseverbot für Gebiete in Norditalien mit insgesamt mehr als 15 Millionen Einwohnern verhängt. Die in Europa beispiellose Quarantäne gilt bis zum 3. April.

Landesweit schon 366 Corona-Tote
Die aktuellen Entwicklungen bestätigen die drastischen Maßnahmen der Italiener: So sind in der norditalienischen Region Lombardei innerhalb eines Tages mehr als 100 Menschen am neuartigen Coronavirus gestorben. Die Gesamtzahl der Todesopfer in der Lombardei stieg seit Samstag von 154 auf 257. Die Gesamtzahl der am Coronavirus gestorbenen Menschen in Italien erreichte somit am Sonntag 366. Das entspricht einem Anstieg von 133 Toten seit Samstag. Die Zahl der Infizierten kletterte um 1326 auf 6387, sagte der Chef des italienischen Zivilschutzes, Angelo Borrelli, bei einer Pressekonferenz am Sonntagabend in Rom. 622 Personen seien mittlerweile wieder genesen.

Die 366 Todesopfer kommen einem 57 Prozent hohen Anstieg seit Samstag gleich. Bei der Zahl der Neuinfizierten wurde ein Anstieg von 26 Prozent gemeldet. Die Zahl der genesenen Patienten kletterte um fünf Prozent auf die genannten 622, teilte Borrelli mit. Die Zahl der Patienten auf der Intensivstation wuchs um 14,4 Prozent auf 650.

Die Zahl der Coronavirus-Todesopfer in Italien ist durchschnittlich älter als in China. 60 Prozent der Todesopfer sind älter als 80 Jahre alt. Die meisten Todesopfer, die über 70 Jahre alt sind, hätten an einer oder an mehr chronischen, oder akuten Krankheiten gelitten, sagte Silvio Brusaferro, Leiter von Italiens Oberstem Gesundheitsinstitut ISS, bei der Pressekonferenz in Rom. Die starke Mobilität in einigen Regionen Italien sei ein „kritisches Element“, das zur Bekämpfung der Epidemie reduziert werden müsse.

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