„Krone“-Interview

Leprous: „Es gibt immer Licht am Ende des Tunnels“

Musik
29.01.2020 06:00

Seit knapp 20 Jahren arbeiten sich Leprous mit Fleiß, Talent und Ehrgeiz gemächlich an den Mainstream heran. Gestartet als progressive Metalband, klingt das aktuelle Album „Pitfalls“ schon stark nach Pop, behandelt hinter den oft süßen Melodien aber das ernste Thema Depression. Durch dieses Tal schritt Sänger Einar Solberg und machte das sechste Album der Band somit zum persönlichsten und intensivsten. Was genau dahintersteckt und wie ihm die Musik dabei half, verriet er uns im Interview. Am 12. Februar kommen Leprous live ins Grazer Explosiv.

(Bild: kmm)

„Krone“: Einar, Simen, euer aktuelles Album „Pitfalls“ war nicht nur das bislang erfolgreichste, sondern auch ein weiteres Mal ein großer Schritt aus einer Komfortzone, in der ihr ohnehin nie wirklich wart. Ist das Geheimnis eures steigenden Erfolgs denn eurer Vielseitigkeit geschuldet?
Einar Solberg:
Das Geheimnis des Erfolgs ist wohl, dass wir immer wir selbst sind und stets das machen, was sich für uns richtig anfühlt. Wir überdenken keine Erwartungen von außen, sondern machen nur das, was uns gefällt. Das ist natürlich ein langer Pfad, den wir da beschreiten, aber wir ernten auch die Früchte daraus. Würden wir etwas sicherer vorgehen und uns öfter wiederholen, würden wir wohl das Interesse an der Musik verlieren. So sind wir nicht. Wir touren sehr viel und es ist dann schon ausreichend, wenn wir immer dieselben Songs spielen. (lacht)
Simen Daniel Børven: Die einzigen kreativen Barrieren legen wir uns selbst auf, ansonsten gibt es keine. Wenn du unsere Szene mit der Popszene vergleichst, gibt es überhaupt keine Überschneidungen. Dort gibt es externe Songwriter und kraftvolle Produzenten. Wir machen alles selbst und haben Freiheiten, die auch nach außen geschätzt werden. Wir nehmen sicher die längere Strecke, aber im Endeffekt belohnt sie uns und unsere Fans.

Eure Identität ist, dass ihr keine klar zuordenbare Identität habt. Einar, du hast in einem Interview unlängst auch betont, dass dich die klassische Prog-Rock-Szene ziemlich langweilt…
Solberg:
Es ist wie bei jeder Szene. Sie wird von ein paar innovativen Bands gegründet, die außerhalb der Nischen denken und dann kommen die Trittbrettfahrer, die eine tolle Szene zwar erweitern, aber auch vorhersehbar und langweilig machen. Es gibt viele gute Seiten in der Prog-Szene, aber eine der schlechten ist etwa, dass von einem erwartet wird, mehr technisches Handwerk als Emotionen zu zeigen. Das ist etwas, das ich persönlich nicht nachvollziehen kann. Wir alle in der Band sind qualifizierte Musiker, aber wir müssen nicht jedes Mal damit angeben. Die Leute sollten etwas in der Musik fühlen und nicht davon beeindruckt werden.

Speziell „Pitfalls“ bricht mit Emotionen fast über, weil du da deine Probleme mit Depressionen ausbreitest und die in ein schönes, sehr poppiges Soundkonstrukt steckst. Wie weit hast du dich auf dem Album im Endeffekt geöffnet? Wie viel von dir und deinen Problemen gibst du preis?
Solberg:
Speziell für die erste Hälfte des Albumschreibprozesses war ich in einer wirklich schlechten Verfassung. Diese Musik zu schreiben war für einige Monate alles, an was ich dachte. Alles was du tun kannst, ist etwas zu erschaffen, das echt ist. Das muss nicht zwingend mit dir zusammenhängen, aber ich war so in meinen eigenen Problemen absorbiert, dass es nicht anders ging. Natürlich entkleidet man sich damit, aber ich schreie nicht „Breaking News: Der Leprous-Sänger hat Depressionen“ hinaus. (lacht) Diese Probleme sind in der Musikszene und auch in der normalen Welt alltäglich. Jede kleine Geschichte hat ihre eigene Färbung und führt wieder zur nächsten. Man kann seine eigenen Erfahrungen und Schmerzen als Hörer gut einfließen lassen, denn jeder kann dieselben Probleme haben. Als Künstler kann und soll man ruhig etwas von seinem Privatleben hergeben.

Es ist zwar bekannt, dass Depressionen überall existieren, aber respektiert und für voll genommen werden sie in verschiedensten Branchen noch immer nicht. Gerade deshalb ist es umso wichtiger, dass jemand wie du mit einer gewissen Breitenwirksamkeit den Fokus darauf lenkt.
Solberg:
Ich stimme dir da voll zu. Ich habe sehr viel gutes Feedback bekommen und die Leute sagten mir, sie finden sich vielmehr selbst als je zuvor. Früher haben wir öfter Metaphern verwendet, um uns dahinter zu verstecken - dieses Mal habe ich einfach so geschrieben, wie es wirklich war. Es ist schön zu sehen, dass ich helfen kann. Jeder mag das Gefühl, mit seinen Problemen nicht allein zu sein. Gerade depressive Menschen sind oft sehr allein und glauben, sie sind eine Last für jeden, weil sie nichts Positives ausstrahlen.

Die Musik klingt im Vergleich zu den Texten oft geradezu fröhlich und lebensbejahend. War es dir ein besonderes Anliegen, hier ein schönes Gleichgewicht zu erschaffen und nicht zu schwer zu werden?
Solberg:
Das ist sogar sehr wichtig für ein Album wie „Pitfalls“. Es muss immer ein Licht zu sehen sein, denn ich will die Menschen mit dem Album nicht erdrücken. Man darf schon traurig sein, aber am Ende des Tunnels gibt es wieder Licht. Mir ging es lange nicht so, aber ich weiß, dass es wichtig ist, daran zu glauben. Auf diesem Album gibt es einige Songs, die das Positive hervorkehren. In einer Depression glaubst du, dass du permanent darunter leiden würdest und sie nie verschwindet. Man kann sich oft nicht erinnern, wie das Leben davor war. Aber wenn du das große Ganze siehst, ist die Depression nur ein kleiner schwarzer Punkt im großen Dasein.

Es ist bekannt, dass Musik therapeutisch auf Menschen wirkt und ihnen helfen kann. Ist es bei dasselbe, wenn die Musik der Job ist und man nicht davon sprechen kann, dass sie einem aus dem Alltag reißt?
Børven:
Es gibt viele neurologische Untersuchungen zu diesem Thema. Das Gehirn arbeitet bei jedem anders und Teile des Gehirns arbeiten in der Musik anders. Eines der coolsten Dinge, die herausgefunden wurden ist, dass bei Musik das ganze Gehirn aktiviert wird. Das ist anders als bei anderen Kunstformen. Ein Maler malt, ein Schauspieler schauspielert, aber ein Musiker hat immer das große Ganze im Blick. Rein physisch fordert die Musik den gesamten Körper und den Geist. Es ist wie eine natürliche Droge und biologisch ist die Musik das Beste, das du für dich machen kannst.
Solberg: Du befindest dich geistig an einem dunklen Ort, versuchst dich von dort aber an eine Stelle zu strecken, bei der du dich gut fühlen kannst. Wenn du das versuchst, hast du ein Ziel vor Augen und dann hantelst du dich langsam vor. Die Lichtpunkte werden immer heller und die Musik hilft dir heraus. Im Prinzip ist es so, dass Musik bei Depressionen hilft, es im schlechten Fall aber auch umgekehrt sein kann. Selbst an meinem tiefsten Punkt habe ich mich nicht komplett nutzlos gefühlt. Ich hatte keine Energie, verlor den Glauben und die Motivation, aber glücklicherweise habe ich auch Leute in meinem Umfeld, die mich nie fallen ließen.
Børven: Es gibt diesen Mythos des leidenden Künstlers. Nach dem wir eine der ersten Singles veröffentlicht haben, verstand ich, dass Einar leiden musste, um uns diese Qualität in der Musik zu geben. Ich bin nie durch eine lange Periode der Depression gegangen, aber jeder Mensch wird irgendwann im Leben damit konfrontiert. Sie ist sehr paralysierend und man kann wenig daraus ziehen. Der Mythos, dass man dann besser schreibt, bestätigt sich in der Realität aber kaum.
Solberg: Es gibt dir Ideen, um danach etwas zu schreiben. Während einer Depression ist es unmöglich, wirklich kreativ zu sein. Das ist ein Gerücht, das nicht standhält.

Künstler sagen aber auch, sie wollen und können nicht schreiben, wenn es ihnen zu gut geht. Glückliche Momente teilt man ja auch lieber intern zu zweit oder im engen Kreis, weniger gute Momente versucht man in der Allgemeinheit zu verarbeiten.
Solberg:
Niemand außerhalb deines Umkreises will etwas über dein persönliches Glück hören. Schon gar nicht in Norwegen. (lacht)

Wenn die Texte dermaßen persönlich ausgefallen sind, wie viel Demokratie gab es dieses Mal im musikalischen Prozess?
Solberg:
Ich habe die Texte eher der Musik angepasst. Auch wenn ich ein ziemlicher Kontrollfreak bin, gibt es genug Demokratie. Simen hat erstmals einen ganzen Song geschrieben. Ich war anfangs unsicher, aber heute ist es einer meiner Favoriten. Ich brauche bei anderen einfach meine Zeit. Jeder kann sagen, was er will und sich einbauen, aber ich habe eine starke Meinung und entscheide am Ende.
Børven: Egal ob in der Wirtschaft oder der Kunst, geht es im Endeffekt um Gruppendynamik und darum, dass man einen kleinsten gemeinsamen Nenner findet. Leprous gibt es mittlerweile sehr lange. Es gab viele Line-Up-Wechsel und mit jedem neuen Mitglied, veränderte sich die Farbe der Musik. Es ist normal, dass man sich gut kennenlernen muss und dass sich Dinge mit neuen Mitgliedern verändern. Ich bin eine ziemlich sture Person, wodurch Einar und ich oft lange Diskussionen hatten. Das ist aber auch wichtig, um zu einem guten Ergebnis zu kommen. Es gibt Persönlichkeiten, die schnell zu einer Lösung kommen wollen, andere denken lieber lange nach und analysieren. Zweiteres bin ich eher weniger. (lacht) Natürlich kann es da krachen, aber das Ergebnis ist dann gut.
Solberg: Je mehr du jemanden kennst und ihm vertraust, desto besser wird die Zusammenarbeit. Es will ja jeder nur das Beste für die Band und auch Tor und ich, die das seit fast 20 Jahren zusammen machen, müssen das immer wieder lernen. Wir müssen akzeptieren, dass Ideen von außen gut oder besser als die eigenen sind. Je länger es die Band gab, umso schwerer fiel es uns, den Leuten voll zu vertrauen. Mittlerweile ist die Vision für Leprous aber auf Schiene und die Dynamik funktioniert. Wenn man jemanden gut kennt, dann weiß man auch, wie jemand was meint. Die meisten Diskussionen gibt es tatsächlich aus dem Grund, dass man die Verhaltensweisen und Charakteristika des anderen nicht gut genug kennt. Wir bestehen aus vielen starken Persönlichkeiten und das macht Dinge nicht immer leicht. Wenn du gar keine Kompromisse findest, kannst du mit all diesen kreativen Köpfen gar nicht arbeiten.

Am Ende geht es doch immer nur offene und ehrliche Kommunikation. Wie immer und überall im Leben.
Børven:
Korrekt. In Norwegen bin ich Lehrer auf einem Musik-College und weiß, dass es verdammt schwierig ist, eine Band wirklich gut zu organisieren. Es ist so viel zu bedenken, weil es dafür noch immer keine klaren Regeln gibt. Dafür funktionieren Bands in der Industrie eigentlich ziemlich gut. Es gibt im Musikgeschäft keine Regeln und Normen, überall anders schon. Die Navigation ist schwer, aber auch einzigartig und intensiv. Im besten Fall fühlst du dich am Ende des Tages wie in einer Familie. In Familien gibt es aber auch tolle und weniger tolle Momente.
Solberg: Man ist so eng beieinander, eine lange Zeit des Jahres über. Die meisten Leute lieben es, mit starken Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten, weil man sich damit auch selbst pushen kann. Wenn es nur eine wirklich starke Persönlichkeit gibt und alle anderen folgen, wird das Teamwork schwierig. Dann tun sich Gräben auf, weil die anderen innerlich unzufrieden sind. Da diskutiere ich lieber gleich mit starken Persönlichkeiten, um eine befriedigende Lösung für alle zu finden. Niemand streitet gerne, aber es lässt sich nicht immer vermeiden. Wichtig ist nur, einen Streit nicht ein zweites Mal zu eröffnen.

Es gibt Menschen, aus eurer eigenen Promo-Abteilung, die klar behaupten, auf „Pitfalls“ hättet ihr auch eure U2-Momente. Wie steht ihr dazu?
Solberg:
(lacht) Damit ist sicher der Song „Alleviate“ gemeint. Möglicherweise kann man den Refrain in die Richtung interpretieren, weil du das in hunderten Pop-Hits so oder abgewandelt hörst. Im Gesamten klingt der Song wohl nicht nach U2, aber ich weiß schon, was der gute Mann damit ausdrücken will. Wir sind da nicht so kantig wie sonst, aber der Song war unglaublich wichtig für mich, weil er eine der positivsten Nachrichten auf dem Album trägt und damit die Gesamtbalance hält. Ich hätte diesen Song vor fünf Jahren wohl nicht gemocht, aber man ändert sich.

Gerade weil sich das musikalische Gesicht von Leprous über die Jahre so massiv verändert hat - macht es euch überhaupt noch Spaß, alte Songs zu spielen und tief in der Vergangenheit zu graben?
Solberg:
Simen ist so jung, dass er wohl nicht mal alle alten Songs kennt. (lacht)
Børven: Ich kenne die Songs, die ich live zu spielen habe. Das Gute an Leprous ist, dass es so viel Material gibt und wir auf Tour jeden Abend die Setlist adaptieren können. Ich kenne schon die alte Musik, aber tatsächlich nicht alles. Wir sind weder eine alte, noch eine junge Band, aber ich kann das Ungestüme eines Songs wie „Forced Entry“, der knapp zehn Jahre alt ist, schon verstehen. Manchmal muss ich zugeben, dass es meinen Stolz schmerzt, weil ich nicht so der Fan dieser Musik bin. Es macht aber Spaß, diese wilden, unbeherrschten Songs live zu spielen. Wir können so etwas aus dem Hut ziehen und das macht Spaß. Aber auch das Publikum hat sich gewandelt. Im Internet fordern die Leute immer die alten Songs, aber wenn wir sie dann live spielen merken wir, dass es nur ganz wenige interessiert. In Chile haben wir mit einer Veranstalterin gewettet. Sie meinte, „Forced Entry“ wird das beste Feedback kriegen und wir waren sicher, dass es definitiv „From The Flame“, ein wesentlich neuerer Song, sein würde und natürlich hatten wir recht. (lacht)
Solberg: Es gibt immer ein paar sehr laute Stimmen, die alte Songs im Netz fordern, aber wir kennen unsere Statistiken der Streaming- und Verkaufszahlen doch etwas besser und wissen genau, was die Leute heute wirklich hören wollen. (lacht) Das deckt sich meist nicht mit den Internetstimmen. Wir haben aber auch Songs, die sich noch immer gut einfließen lassen, etwa „Acquired Taste“, das von der „Bilateral“ stammt. Diese Nummer passt kontextuell gut zu den neuen Songs. Wenn du jünger bist, hast du immer das Gefühl, dass du in einer kurzen Zeitspanne alles zeigen musst, was du kannst. Wir sind aber älter geworden, sind bessere Musiker und weisere Typen und müssen der Welt unsere neuen Fertigkeiten nicht mehr sofort ins Gesicht klatschen. Wir sind entspannter und beruhigter. Die Leute sehen „Pitfalls“ oft als eine Art Soloalbum und glauben, ich hätte das alles geregelt, weil es so persönlich ist, aber dem ist nicht so. Manchmal vergessen die Menschen, dass Tor und ich schon seit fast 20 Jahren im Prog verankert sind und uns immer gewandelt haben.
Børven: Ich hatte auch eine Zeit, wo ich viel Pain Of Salvation hörte, aber dann entdeckte ich Jazz und alles veränderte sich. (lacht)
Solberg: Wir sind keine Band, die aus Prog-Musikern besteht. Wir sind einfach Musiker und machen, wonach uns der Sinn steht. Jeder hat einen anderen Background. Ich glaube, das Lieblingsalbum unser Fans ist „The Congregation“, davor war es „Bilateral“. Es scheint so, als ob es immer jedes zweite Album wäre. (lacht) Das Lustige daran ist, dass gerade „The Congregation“ der Idee eines Soloalbums am nächsten kam, weil ich wirklich jeden einzelnen Teil alleine schrieb. Sogar die Drum-Parts habe ich großteils mitverfasst, weil wir damals die Hälfte der Band austauschten und ich mir sicher sein musste, dass alles so passieren würde, wie ich es mir vorstellte. „Pitfalls“ ist ein viel stärkeres Bandalbum, wo mehr Leute Kreativität reinsteckten. Es ist lustig zu sehen, wie sich die Leute oft in ihrer Vorstellung irren. Damals gab es einfach so viele Umbrüche, dass „The Congregation“ fast automatisch eine Art Solowerk wurde. Die letzten drei Alben haben uns aber definitiv in die Richtung gebracht, die wir heute einschlagen. „Pitfalls“ hat sich in ungefähr drei Wochen so gut verkauft wie „Malina“ in einem Jahr, aber rein künstlerisch ist es eine natürliche Progression. Von den nackten Zahlen war ich selbst sehr überrascht. Ein erfolgreiches Album ist nicht immer das Lieblingsalbum der Fans. Die Leute lieben von Metallica „Master Of Puppets“ am meisten, aber am besten verkauft hat sich wohl immer noch das „Black Album“.

Für Fans ist immer das erste Album, das sie von ihrer Lieblingsband hörten, das wichtigste. Das hat gar nichts mit Erfolgen zu tun, aber es bleibt dir persönlich einfach immer am stärksten verinnerlicht.
Solberg:
Das ist auch gut so, denn so werden alle Alben eines Künstlers geschätzt, weil die nächste Generation mit anderen Alben aufwächst. Jedes Album hat seine eigene Farbe. Selbst wenn du gerne indisch isst, willst du manchmal trotzdem zur Pizza greifen. Wir bieten bei Leprous diese Möglichkeit an. Gleichförmigkeit funktioniert bei anderen Bands oft gut, aber ich persönlich müsste mit dem Musikmachen sofort aufhören, wenn ich in so einer Schleife gefangen wäre.

Diese Vielseitigkeit ist aber ein wichtiger Teil eurer Authentizität und die Jubiläumsjahre, wo ihr dann eure Alben in Gänze live spielen solltet, kommen noch früh genug.
Solberg:
(lacht) Wir haben „The Congregation“ 2019 schon einmal durchgespielt und das war gar nicht so cool. Das Problem mit dem Album ist, dass die ganzen Hits und positiven Songs auf der ersten Albumhälfte sind und die zweite Hälfte wesentlich schwerer und obskurer ist. Ich finde, man muss diese Alben so durchspielen, wie sie gefertigt wurden. Die Songs nicht vertauschen. Aber ein gutes Album ergibt nicht automatisch eine gute Setlist, das weiß ich seither auch. Es fühlte sich so an, als könnten wir die Intensität nicht halten.

Aber immerhin habt ihr das Album durchgespielt. Die legendären Cavalera-Brüder von Sepultura haben von „Beneath The Remains“ und „Arise“ nur die großen Hits rausgepickt und diese herausragenden Alben nicht zur Gänze durchgespielt.
Solberg:
Das stimmt schon irgendwie. Ich war bei einer Massive-Attack-Show, wo sie „Mezzanine“ zur Gänze aufgeführt haben und habe mich irrsinnig darauf gefreut. Aber danach habe ich gemerkt, dass es maximal vier oder fünf Songs sind, die ich wirklich von diesem Album mag. (lacht) Mir ist es wirklich so viel lieber, wenn sie ein normales Set spielen. Selbst wenn du einen Favoriten unter Alben hast, willst du auch Songs von anderen Alben hören. Natürlich verkaufst du mit diesen „Entirety-Shows“ mehr Tickets, weil die Leute aufgeregt und nostalgisch werden. Aber fast alle kommen während der Gigs drauf, dass ihnen vieles andere dann doch abgeht.

Um ehrlich zu sein gibt es in der Musikhistorie auch nur ein paar Handvoll Alben, die nach außen hin wirklich von Anfang bis zum Ende knallen.
Solberg:
Das ist korrekt. Selbst die „perfekten“ Alben haben dann oft Songs, die im Studio oder daheim auf der Anlage besser klingen als live auf der Bühne. Davon haben wir auch genug, das ist ganz klar. Außerdem kriegst du die Songs live nie 1:1 so hin, wie auf dem Album, was viele Fans manchmal verstört. Nostalgie ist etwas Nettes, aber auch etwas Ärgerliches. Speziell in der Rockszene gibt es viel zu viel Nostalgie, die das ganze Genre bremst. Von den 60ern bis tief in die 2000er hinein gab es im Rock kreative Explosionen, aber heute gibt es nur mehr wenige innovative Bands, weil alle anderen lieber zurück als nach vorne schauen. Irgendwie hat die Szene ihr Feuer und ihren Mut verloren und das ist sehr schade.

Man braucht sich nur die modernen Festival-Line-Ups ansehen. Die Kreativität gibt es heute im Indie, beim Electro, im Hip-Hop oder Alternative-Bereich. Die Rock- und Metalszene kopiert sich selbst und siecht dahin.
Solberg:
Es gibt schon ein paar junge Bands, wie etwa Ghost, die sich sehr gut schlagen, aber auch ihr Sound ist sehr retro-orientiert. Zumindest haben sie aber eine eigene Identität, doch als bahnbrechend würde ich ihren Sound nicht bezeichnen. Er ist eingängig, aber auch sehr zitierend. Früher gab es zum Beispiel ganze Szenen, die in einer eigenen Stadt entstanden sind wie der Grunge in Seattle. Dann gab es den Durchbruch des Alternative Rock und die Punk-Rock-Schwemme Mitte der 90er. Es passierte einfach so viel und das ist in diesem Sektor vorbei. Mir persönlich stellt sich schon die Frage, wie oft ich noch zu Festivals gehen sollte, um dieselben Songs von Journey zu hören. Ich bin nostalgisch bei 90er-Rockmusik, Tupac Shakur und Cypress Hill, aber die Nostalgie übermannt mich nicht so, dass ich diese Künstler jedes Jahr zwingend sehen muss.

Viele haben bei Festivals dann aber auch das Erwachen, dass eine gewisse Band oder ein gewisser Sound damals in der Jugend toll funktionierte, heute in der Gegenwart aber gar nicht mehr kickt.
Solberg:
Wie oft soll ich Europe noch dabei zusehen, wenn sie „The Final Countdown“ spielen? (lacht)

Auch die Meinung der Menschen ändert sich oft drastisch. Vor etwa zehn Jahren wurden die 90er noch als furchtbares Musik-Jahrzehnt gesehen. Heute betrachtet man diese Ära als letzte innovative im Rock- und Metalsektor. Der Nu-Metal wird geschätzt und die Vielseitigkeit im Ganzen ebenso. Es war das letzte Jahrzehnt, wo im harten Musikbereich wirklich viel passiert ist.
Solberg:
Die 90er waren großartig, um ehrlich zu sein. Sie waren sogar innovativer als die 80er-Jahre. In den 70ern wurde viel begründet, aber die 80er haben sich sehr stark darauf berufen und alles abgeschwächt. Es gab dort schon auch gute Bands, aber erst in den frühen 90er-Jahren passierte wirklich wieder eine Umwälzung. In diesem Jahrzehnt gab es gleichzeitig ein paar meiner absoluten Lieblingsbands und ein paar wirklich ganz furchtbare Strömungen. Du hattest dort einerseits Radiohead, Massive Attack oder The Prodigy, die komplett einzigartig waren. Andererseits gab es auch so viel Trash wie nie zuvor. Die allgemeine Qualität von Bands ist heute wohl größer, aber herausstechen tut in der Gegenwart kaum jemand - was damals aber oft der Fall war. Eine total eigene Identität, die fehlt vielen Bands heuer.

Durch das Internet kann zwar jeder schnell veröffentlichen, aber die Breitenwirksamkeit geht dabei unter. Eine Band wie Cigarettes After Sex füllt zwar die Clubs, aber ein massiver Aufstieg scheint kaum möglich zu sein.
Solberg:
Die Aufmerksamkeit ihnen gegenüber steigt aber zunehmend, und das zurecht. Sie sind eine wirklich gute Band. Ich hoffe, dass ihnen mehr Erfolg beschieden ist.

Ihr rückt mit Leprous auch immer stärker in den Mainstream, aber nicht um des Mainstreams willen. Das ist ein großer und elementarer Unterschied zu anderen wachsenden Bands, die dafür ihre Authentizität aufgeben.
Solberg:
Wir haben in dieser Band wirklich Stein für Stein gebaut und nie etwas überstürzt. Devin Townsend hat mal was Interessantes gesagt. „Ein ehemaliger Metalmusiker zu sein, ist wie ein Ex-Pornostar zu sein“. (lacht) Du wirst dich quasi niemals komplett von deiner Vergangenheit lösen können. Das betrifft alle und auch wir merken das natürlich. Auch wenn wir „Alleviate“ spielen, sehen wir in der ersten Reihe die Emperor-T-Shirts. (lacht) Ich finde das aber auch irgendwie cool und charmant. Unser Publikum ist unglaublich bunt gemischt. Wir haben Metalheads, wir haben Leute, die damit überhaupt nichts zu tun haben und auch Frauen kommen vermehrt zu unseren Shows. Das ist wirklich cool, auch weil es in dieser Szene sehr selten ist.
Børven: Am meisten gefällt es mir, wenn ganze Familien kommen. Eltern mit ihren Kids. Ich kann mich selbst noch daran erinnern, als ich mit meinen Eltern meine ersten Konzerte besuchte und mir gefällt es, dass wir auch schon so eine Band sind.
Solberg: Ich habe als Kind niemals solche Familienbands gesehen. Als Kind ist alles so groß und aufregend und irgendwann verlierst du unweigerlich diese Magie, die ein Konzert für dich ausmacht.
Børven: Meine erste Rockshow waren die Foo Fighters, als sie gerade „One By One“ veröffentlichten. Die Musik, das Bühnensetting, alles - ich werde das nie vergessen. Eine prägende Erfahrung.
Solberg: Ich hatte so ein Erlebnis mit ca. 16 Jahren. Ich war damals beim „Sweden Rock Festival“. Auch wenn das extrem nostalgisch ist, war es damals so frisch und neu für mich. Heute hasse ich Festivals. Der Schlamm, die vielen Leute, der Stress. Eine Horrorvorstellung. Als Künstler kann ich mich zumindest backstage verstecken. (lacht) Ich mag es aber wirklich, dort zu spielen. Ich kann mir viele tolle Bands ansehen und kann mich dann vor den Massen verstecken.
Børven: Ich bevorzuge ja die Jazz-Festivals. Da kann ich mich gemütlich hinsetzen, der Musik lauschen und mein Bier trinken. (lacht)

Live in Graz
Nach ihrem umjubelten Auftritt in der Wiener Szene kommen Leprous noch einmal nach Österreich. Am 12. Februar spielen Einar Solberg und Co. im Grazer Explosiv. Weitere Infos und Karten gibt es unter www.metalticket.at

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