Zurechnungsunfähig

Denn sie wissen nicht, was sie tun …

Österreich
06.01.2020 12:41

Immer mehr Menschen werden nach schweren Gewaltdelikten für zurechnungsunfähig erklärt. Warum? Die „Krone“ sprach mit Psychiatern, einer Anwältin - und mit einer geistig abnormen Täterin.

Es war im Frühjahr 2018, als sich Jenni zu verändern begann. „Ich hatte damals zunehmend das Gefühl“, sagt die 32-Jährige jetzt im „Krone“-Interview, „von anderen Menschen hintergangen zu werden.“ Ängstlich, misstrauisch - sei sie plötzlich gewesen. Und extrem hypochondrisch. In der Folge konsultierte die Wienerin Dutzende Ärzte. Die Untersuchungsergebnisse - stets dieselben: Körperlich fehle ihr nichts, möglicherweise habe sie seelische Probleme. „Was ich nicht glauben konnte.“

Laufend mehr war Jenni hingegen davon überzeugt, die Pharmaindustrie würde sie töten wollen; und irgendwann vermutete sie sogar, Sarah (25) - ihre Lebensgefährtin, ihre engste Bezugsperson - wäre „eine Abgesandte des Feindes“.

„Und dann bin ich völlig ausgeklickt“
Ein Verdacht, der sich bei einem Urlaub des Paars - im August, in Kroatien - verfestigte. Die beiden Frauen zogen sich dort eine Fischvergiftung zu; im Gegensatz zu ihrer Freundin verweigerte Jenni jede Behandlung. „Ich schlief zehn Tage nicht“, erinnert sie sich: „Und dann bin ich völlig ausgeklickt.“

Am 13. September, längst zurück in Wien, bildete sie sich ein, die Pest zu haben. Sarah brachte die Tobende in ein Krankenhaus. Wo ihr die Diagnose „paranoide Schizophrenie“ gestellt wurde. Allerdings: Die Patientin weigerte sich, in stationärer Betreuung zu bleiben, verließ tags darauf - mit der Auflage, die ihr verordneten Medikamente einzunehmen - das Spital. Checkte, „zur Erholung“, mit ihrer Partnerin in einem Hotel ein - und erdrosselte Sarah wenige Stunden später mit dem Gürtel eines Bademantels.

Alarmierende Zahlen aus dem Justizministerium
Im Wahn, wie Gerichtspsychiater Peter Hofmann letztlich festgestellt hat. Damit konnte Jenni - so will es die Rechtssprechung - für ihr Vergehen nicht bestraft werden, sondern wurde in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Wie in den vergangenen Jahren so viele Menschen, die Tötungsdelikte oder Körperverletzungen begangen haben.

Die Statistik aus dem Justizministerium dazu: Am 1. Jänner 2000 befanden sich 218 Menschen im Maßnahmenvollzug, am 1. Jänner 2018 bereits 497. Ein Zuwachs von 128 Prozent. Ebenfalls massiv gestiegen, um 74 Prozent, die nach Paragraf 21/2 Untergebrachten; Personen, die zwar als zurechnungsfähig, aber als hochgradig gestört gelten: im Jahr 2000 waren es 219; 2018 schon 382.

Nicht lange genug in Kliniken zur Behandlung
Reinhard Haller und Sigrun Rossmanith, beide renommierte Gerichtspsychiater, sehen die Gründe für diese Entwicklung in Versäumnissen, die im Vorfeld der Taten geschehen sind: „Unsere gesetzlichen Bestimmungen lassen es nämlich leider nicht mehr zu, psychisch Kranke ausreichend lange in Kliniken zu behandeln.“ Wobei „doch immens wichtig“ wäre, „Geisteskrankheiten bereits im Anfangsstadium umfassend entgegenzuwirken.“ Mit Medikamenten - und Therapien.

Warum werden Menschen überhaupt psychotisch - oder gar schizophren? Die Ursachen dafür sind nicht gänzlich erforscht. „Genetische Faktoren“, so die Experten, „spielen sicherlich eine Rolle.“

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Warum Menschen psychotisch oder gar schizophren werden? Die Gründe sind noch nicht gänzlich erforscht. Die Genetik spielt jedoch sicherlich eine Rolle.

Reinhard Haller über die Ursachen für wahnhafte Zustände

Schicksalsschläge: ein Fundament für Wahn
Aber diese seien in der Regel nicht alleine verantwortlich für den Ausbruch wahnhafter Zustände: „Nicht wenige der Betreffenden hatten davor schmerzhafte Erlebnisse.“ Waren mit Scheidungen, Jobverlust, Todesfällen konfrontiert. „Doch auch eher unbedeutende Vorfälle können Auslöser für Verfolgungs- und Allmachtsideen sein.“ Und für überbordende Fehlinterpretetationen.

Wie im Fall von Alois H. Im November 2019 erschoss der 46-Jährige in einer Gemeindebauanlage in Wien-Döbling einen Nachbarn, den er kaum gekannt hatte. Zahlreiche natürlich bloß in seiner Fantasie existierende Personen - erklärte der Täter in Verhören - hätten ihm erzählt, der Mann wäre ein Kinderschänder; und weil er ja für die Staatspolizei tätig wäre, müsse er „eben dauernd Verbrecher killen“.

Video: Kopfschuss im Gemeindebau

Von 473 Opfern berichtete er, und auch davon, dass ihn der russische Präsident Wladimir Putin oft daheim besucht und mit ihm „ferngeschaut“ hätte. Seit seiner Kündigung im Mai 2019.

Fest steht: 2015 hatte Alois H., Tischler bei der Feuerwehr, einen Arbeitsunfall. Als er nach Monaten im Spital und in einer Reha-Klinik in den Dienst zurückkam, wollten ihn seine Kollegen schonen und übertrugen ihm fortan nur einfache Aufgaben. Eine freundliche Geste, die er als Mobbing empfand; am Ende meinte er, seine Chefs würden ihn beseitigen wollen - und rund um die Uhr abhören.

Der 46-Jährige wurde mittlerweile von Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter untersucht. Ihr Schluss: „Er leidet an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis und war daher nicht in der Lage, das Unrecht seines Handelns zu begreifen.“ Alois H. bekommt nun Neuroleptika verabreicht. „Und langsam“, so seine Verteidigerin Astrid Wagner, „werden seine Gedanken klarer.“

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Die Hälfte meiner Klienten, die schwere Delikte begangen haben, sind geistig abnorm. Viele von ihnen wurden wahnhaft nach traumatischen Erlebnissen.

Astrid Wagner über zurechnungsunfähige Verbrecher

Das Danach: Trauer und Selbstvorwürfe
Jenni weiß, wovon die Anwältin, die einst auch ihre war, spricht. Die 32-Jährige ist jetzt im Landesklinikum Mauer-Öhling (Niederösterreich) untergebracht; nimmt seit Langem Medikamente ein; macht eine Psychotherapie. „Ich weiß“, sagt sie, „dass ich verrückt war, als ich Sarah umgebracht habe.“ Und: „Ich schaffe es kaum, mit meiner Tat fertigzuwerden. Die Trauer, die Schuldvorwürfe - sind dauernd da.“ Irgendwann wird Jenni in Freiheit kommen. Und dann? „Für Zukunftspläne ist es zu früh. Aber einer Sache bin ich mir bewusst: Ich darf meine Pillen niemals absetzen.“

Martina Prewein, Kronen Zeitung

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