Kein Novum in Europa

Filzmaier analysiert: Türkis-Grün in Zahlen

Österreich
29.12.2019 11:50

Es sieht ganz danach aus, als ob ÖVP und Grüne eine Koalition bilden würden. Die Einladung zum grünen Bundeskongress wurde in der Nacht auf Sonntag verschickt, angelobt werden könnte am 7. Jänner. Das Regierungsprogramm und mögliche Minister sind seit Monaten das Lieblingsthema jeder Gerüchteküche. Nichts Genaues weiß man nicht. Ein paar Dinge lassen sich allerdings bereits jetzt in Zahlen fassen. Eine Analyse von Politologe Peter Filzmaier.

Sind grüne Regierungsbeteiligungen in europäischen Staaten etwas Neues? Nein. Es gab oder gibt sie schon in nicht weniger als 17 europäischen Ländern: Belgien, Tschechien, Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Island, Luxemburg, Litauen, Malta, Neuseeland, Niederlande, Rumänien, Slowenien und Schweden.

Grüne aktuell in drei europäischen Regierungen vertreten
Aktuell sind grüne Parteien - definiert als Parteien, die Mitglied bei der entsprechenden Grünfraktion im EU-Parlament sind - in drei Regierungen vertreten: bei den Schweden, Finnen und Luxemburgern. Zusätzlich gibt es noch in Litauen den Bund der Bauern und Grünen Litauens, die mit einer sozialdemokratischen Abspaltung regieren. Generell handelt es sich überwiegend um die Zusammenarbeit von Grünparteien mit „linken“ sozialdemokratischen oder „nicht linken“ liberalen Parteien.

Regierung von Konservativen und Grünen kein Neuland
Betritt also die ÖVP als rechtskonservative Partei bei einer Partnerschaft mit den heimischen Grünen Neuland? Wiederum nein. Ähnliche Koalitionen gab es beispielsweise in Tschechien (2006), Finnland (1995/99 und ab 2007) und Irland (2007). Hinzu kommen Island und Neuseeland sowie unser Nachbarland Slowenien 1992, das nach seiner Unabhängigkeit von Jugoslawien eine extrem breite Regierungskoalition hatte.

Türkis-Grün mit bisher kleinstem Überhang an Mandaten
Wenn die ÖVP von Sebastian Kurz und Werner Koglers Grüne eine Regierung bilden, so kann sich diese wie fast immer auf eine Mehrheit im von uns gewählten Nationalrat stützen. Allerdings stellen die beiden Parteien „nur“ 97 von 183 Abgeordneten. Das sind bloß fünf mehr als die Hälfte. Mehr noch: Bei 18 Koalitionsregierungen seit 1945 - die Alleinherrschaft einer Partei also ausgenommen - hatten in der Geschichte der Zweiten Republik noch nie zwei Regierungspartner einen kleineren Überhang an Mandaten.

ÖVP und Grüne haben im Bundesrat keine Mehrheit
Mit anderen Worten: Kurz und Kogler dürfen sich in den eigenen Reihen kaum Abweichler und Überläufer leisten, um Gesetze durchzubringen. Bei nur ein oder zwei Abgeordneten-Stimmen über der Nationalratsmehrheit würden sie sowieso fünf Jahre lang nicht ruhig schlafen, weil es jederzeit Abtrünnige geben kann. Im Bundesrat als Länderkammer freilich, der Gesetze bei einer Nicht-Bestätigung verzögern kann, haben ÖVP und Grüne gar keine Mehrheit. Sondern SPÖ und FPÖ, die sich freilich nicht grün genug sind, um ein gemeinsames Gegengewicht zu einer Kurz-Kogler-Regierung zu bilden.

Türkis und Grün erhielten am 29. September bei der Nationalratswahl gemeinsam rund 53 Prozent der Stimmen. Das ist - gleichauf mit ÖVP und FPÖ einst im Jahr 2002 - auch der vom Wahlergebnis her kleinste rechnerische Wählerrückhalt, auf den sich eine Koalition nach dem Zweiten Weltkrieg jemals stützen konnte. Für ÖVP und FPÖ hatte es 2017 62 Prozent gegeben. Noch 2006 hatten die damaligen Koalitionspartner SPÖ und ÖVP gar fast drei Viertel aller Wählerstimmen erhalten.

Meinung in der Bevölkerung wird gespalten sein
Ganz abgesehen von den zeitgeschichtlichen 40er- und 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit schwarz-roten „90 Prozent plus“-Mehrheiten ist also der Regierungskonsens gesunken. Es wird also naturgemäß in der Bevölkerung eine sehr gespaltene Meinung geben, ob diese Regierung gut oder schlecht ist. Viel mehr polarisieren als zuletzt Türkis-Blau, wo immer nur die eigenen Anhänger die angebliche Beliebtheit abfeierten und die Gegner ebenso marktschreierisch vom Weltuntergang sprachen, das geht allerdings kaum.

Video: krone.at-Talk zu Türkis-Grün

Wahlbeteiligung in Österreich international gesehen niedrig
Was ÖVP und Grüne sagen könnten: Bei uns ist die Wahlbeteiligung dafür besonders hoch! Jein. Ganz so stimmt das nicht. Oder nicht mehr. Im internationalen Vergleich aller Parlamentswahlen seit 2017 bedeutet die österreichische Beteiligungsrate von knapp 76 Prozent nur den 40. Platz. Die Liste wird von Nauru und Ruanda angeführt, was wahrscheinlich viele auf der Landkarte erst suchen müssen und bestenfalls semidemokratische Staaten sind. Doch auch acht Länder der EU, darunter Deutschland, wiesen zuletzt eine höhere Prozentzahl von Wählern auf.

Österreich hat durchschnittlich viele Politiker
Was vielleicht auch interessant ist: In Österreich haben wir rund 35.000 Wahlberechtigte pro gewähltem Volksvertreter vulgo Abgeordnetem im Nationalrat. In Spanien sind es mehr als 100.000, in Deutschland, den Niederlanden und Frankreich mehr als 80.000. Lässt man Russland als Demokratie gelten, sind es ebenda sogar mehr als 240.000, in Luxemburg hingegen bloß 4000. Insgesamt hat Österreich im Verhältnis zur Einwohnerzahl durchschnittlich viele Politiker.

Peter Filzmaier, Kronen Zeitung

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