Betroffene schildern:

Mindestsicherung neu „gefährdet Existenzen“

Wien
04.12.2019 16:21

Österreich hat sich mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben zu ermöglichen. Doch diese Verpflichtung kann der Sozialstaat mit der neuen Mindestsicherung aus Sicht vieler Betroffener und ihrer pflegenden Angehörigen nicht mehr einhalten. Aus Oberösterreich und Niederösterreich, wo die Unterstützungszahlungen bereits nach dem neuen Sozialhilfe-Grundsatzgesetz berechnet werden, vernimmt man Klagen über massive finanzielle Einbußen. Aber auch in jenen Bundesländern, wo die Landesregierungen mit der Umsetzung abwarten, bangen pflegende Angehörige um ihre finanzielle Existenz.

Derzeit wird die wohl umstrittenste Reform der türkis-blauen Regierung noch vom Verfassungsgerichtshof überprüft. Eine Entscheidung wird im Dezember erfolgen. Eine Gruppe von SPÖ-Bundesräten hatte gegen das Gesetz Beschwerde eingelegt. Sie kritisierten vor allem die Deckelung des Sozialhilfebezugs und die degressive Sozialhilfekürzung von in Wohngemeinschaften lebenden Bezugsberechtigten.

Als Berechnungsbasis des neuen Gesetzes dient der Ausgleichszulagenrichtsatz, dieser liegt derzeit bei 885 Euro netto im Monat. Diese Summe bekommt eine alleinstehende Person oder alleinerziehende Person, die Anspruch auf Mindestsicherung hat. Jedes weitere volljährige Wohngemeinschaftsmitglied verringert die Summe, die insgesamt ausbezahlt wird. Bei zwei Personen sind es nur noch je 70 Prozent, ab der dritten leistungsberechtigten Person jeweils 45 Prozent. Berechnungen der Armutskonferenz haben zum Beispiel in Niederösterreich ergeben, dass Alleinerziehende, aber auch Wohngemeinschaften (von Menschen mit Behinderungen zum Beispiel) massive Einbußen erleiden.

Wien wartet mit Umsetzung bis VfGH-Entscheid ab
Wien, das im Zuge der Mindestsicherungsdebatte immer wieder am Pranger stand, will mit dem Beschluss eines Ausführungsgesetzes auf jeden Fall bis zum VfGH-Urteil warten. Aus dem Büro von Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) wird gegenüber krone.at betont, dass Wien ein „funktionierendes und verfassungskonformes“ Mindestsicherungsgesetz habe und man dieses auch „im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben“ beibehalten möchte.

Die Ungewissheit unter Betroffenen ist dennoch sehr groß, wie Claudia Sengeis, Leiterin einer Selbsthilfegruppe für Eltern in Wien, die pflegebedürftige Kinder haben, bestätigt. „In Niederösterreich und Oberösterreich müssen pflegende Eltern das schon länger mitmachen und sind schon längst am Existenzminimum. Und das droht uns nun auch in Wien. Nur sagt man uns noch nichts. Wir werden halt vor vollendete Tatsachen gestellt. Und das wird für viele existenzbedrohend werden“, zeigt sich die Wienerin fassungslos.

Angesprochen auf den Zuschlag in Höhe von rund 159 Euro, den das neue Gesetz Menschen mit Behinderungen im Monat zuerkennt, kann Sengeis nur den Kopf schütteln: „Dieser Bonus ist für die Tonne. Denn ich bekomme samt Bonus weniger nach den Kürzungen.“ Die Mutter sorgt sich nämlich um die Sonderzahlungen für Therapien, die allesamt wegzufallen drohen.

Rechtsunsicherheit wegen Kann-Bestimmungen der Länder
Auch folgende Passage des Gesetzes macht Sengeis wütend: „Sofern es im Einzelfall zur Vermeidung besonderer Härtefälle notwendig ist, können durch die Landesgesetzgebung zusätzliche Leistungen zur Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts oder zur Abdeckung außerordentlicher Kosten des Wohnbedarfs in Form zusätzlicher Sachleistungen gewährt werden, soweit der tatsächliche Bedarf durch pauschalierte Leistungen (...) nicht abgedeckt ist (...).“ Diese „Kann-Bestimmungen“ stünden nicht gerade für Rechtssicherheit, kritisiert die Leiterin der Selbsthilfegruppe.

Soziale Härtefälle würden zudem durch die lange Verfahrensdauer produziert. Sengeis kennt mehrere betroffene Mütter, die schon jetzt Jahre auf einen positiven Mindestsicherungsbescheid warteten. Die 48-Jährige spricht auch von zeitweise verschwundenen Anträgen, die dann „plötzlich wieder auftauchen“ würden. Auch lange Wartezeiten auf Pflegeplätze sind für die Wienerin teilweise unzumutbar. So habe ihre Tochter, als sie rasch einen Pflegeplatz benötigt hätte, drei bis vier Monate warten müssen. Es würden derzeit auch viele Plätze zurückgehalten. Sengeis vermutet die Kassenfusion als Grund dahinter.

„Wir wurden von allen Parteien im Stich gelassen“
Die 48-Jährige, die selbst drei mittlerweile erwachsene Kinder mit unterschiedlichen Behinderungsgraden hat, lässt kein gutes Haar an der unter Türkis-Blau beschlossenen Reform der Mindestsicherung. Allerdings trifft ihre Kritk nicht nur die vormalige Koalition, sondern alle Parteien. „Wir wurden von allen im Stich gelassen“, klagt Sengeis und verweist auf ihre Versuche, sich mit anderen Betroffenen Gehör bei den Parteien zu verschaffen. Auch wenn sie zunächst auf offene Ohren gestoßen seien, am Ende habe man ihr erklärt, „dass wir zu wenige sind, dass es keine Zahlen über uns gibt“.

Zumeist sei im Zusammenhang mit dem Thema lediglich die Altenpflege im Fokus. Und jene Gruppe, die Sengeis vertritt, würde stets „durch den Rost fallen“. Eine im August vom Sozialministerium präsentierte Studie über Pflege in Österreich habe sich ebenfalls nur auf die Altenpflege bezogen. Als die Wienerin während der Durchführung der Untersuchung bei den Studienautoren anrief und fragte, ob auch Eltern, die ihre Kinder pflegen müssen, vorkämen, sei ihr vermittelt worden, dass diese nicht Teil der Studie seien. Für Sengeis war das vollkommen unverständlich und sie fordert, dass nun endlich auch die Zahl pflegender Eltern erhoben werden.

„Wir sitzen in einem Boot und gehen gemeinsam unter“
Von der nächsten Regierung fordert die pflegende Mutter die „komplette Rücknahme“ des Sozialhilfegesetzes und eine finanzielle Absicherung für pflegende Angehörige ab der Pflegestufe 3. Da die einzelnen Bundesländer weiterhin über zahlreiche Kann-Bestimmungen verfügen, sei der „Mindestsicherungs-Fleckerlteppich“ nicht beendet worden. „Das Gesetz ist nicht durchdacht“, ärgert sich Sengeis.

Derzeit herrsche überhaupt „Chaos“. So seien ihr Fälle zu Ohren gekommen, in denen die Familienbeihilfe angerechnet würde, obwohl im Gesetz klipp und klar steht: „Die Familienbeihilfe (§ 8 FLAG), der Kinderabsetzbetrag (§ 33 Abs. 3 EStG) und die Absetzbeträge gemäß § 33 Abs. 4 EStG sind nicht anzurechnen.“ „Einer Mutter in Vorarlberg wird das jetzt angerechnet. Sie ist vollkommen verzweifelt und fragt sich: Wie kann das sein?“, schildert Sengeis. Eine Mutter aus Oberösterreich habe ihr erst vor Kurzem geschrieben, dass ihrem mehrfach schwer behinderten Sohn keine Mindestsicherung zuerkannt worden sei, da er die erhöhte Familienbeihilfe bekomme.

Punkto Motivation zur Integration und Treffsicherheit, stets ein Hauptargument der türkis-blauen Regierung für die Reform, meint Sengeis: „Flüchtlingsproblematik hin, Flüchtlingsproblematik her, wir alle sitzen nun in einem Boot und können gemeinsam untergehen.“

Warnung vor höherem Verwaltungsaufwand
Ein Sprecher von Sozialstadtrat Hacker versichert, das Land Wien sei bestrebt, auch in Zukunft Leistungen, die der Deckung eines Sonderbedarfes wie der Pflege dienen, nicht anzurechnen. Zu den Sonderzahlungen für Dauerleistungsbezieher in Wien merkt der Sprecher an, dass das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz für solche Leistungen jährliche Höchstsätze vorsehe, die nicht überschritten werden dürften.

Was die Problematik der langen Verfahrensdauer betrifft, betont die MA 40, dass man bemüht sei, Anträge auf Mindestsicherung „so rasch wie möglich abzuarbeiten“. In vielen Fällen würden aber nachgeforderte Dokumente den Prozess verzögern. Gleichzeitig warnt das Büro Hacker vor dem neuen Gesetz, das in seiner aktuellen Form „den Verwaltungsaufwand erhöhen wird“.

VfGH-Beschwerde: ÖVP geht davon aus, dass das Gesetz hält
Die ÖVP ging trotz der wiederholten Kritik bislang davon aus, dass die Mindestsicherungsreform vor dem VfGH hält. Schließlich habe man die bisherige Judikatur berücksichtigt. Zu den aktuellen Vorwürfen von pflegenden Eltern wollte man keinen Kommentar abgeben. Bereits im Juli hatte ÖVP-Klubobmann und -Sozialsprecher August Wöginger allerdings betont, dass ihm die Beschwerde vor dem Höchstgericht kein Kopfzerbrechen bereite. Sowohl die Staffelung bei den Kindersätzen als auch die Verknüpfung mit den Sprachkenntnissen (300 Euro können abgezogen werden, wenn keine Deutschkenntnisse auf Niveau B1 oder Englischkenntnisse auf Niveau C1 vorliegen) werde halten, zeigte er sich überzeugt. Auch habe man mit dem Grundgesetz den Ländern den nötigen Spielraum gelassen, argumentierte Wöginger, der etwa die Wohnkosten ins Treffen führte.

Markus Steurer
Markus Steurer
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