Bücher von St. Raphael

Ewige Erinnerungen an Palliativpatienten

Ombudsfrau
01.11.2019 06:00

Wer waren all diese Menschen? Eine engagierte Krankenschwester hat über jeden verstorbenen Patienten eine Seite geschrieben und diese Texte über Jahrzehnte gesammelt. Benannt wurden diese Bücher nach dem heiligen Raphael, dem Schutzheiligen der Reisenden...

Wenn Silvia Vogl auf die Palliativstation des „Göttlicher Heiland Krankenhauses“ kommt, und es brennt eine Kerze, dann weiß sie: Es ist jemand verstorben. Das ist seit 26 Jahren so, seit sie hier als Krankenschwester zu arbeiten begonnen hat. Ganz am Beginn, 1992, war hier das erste Hospiz in Österreich, später wurde daraus eine Palliativstation. Hierher kommen unheilbar kranke Menschen, um zu sterben. Andere werden hier schmerztherapeutisch behandelt, stabilisiert, sie gehen wieder nach Hause, im Wissen, dass das Leben begrenzt ist. Zu Hause pflegt Silvia Vogl dann ein besonderes Ritual: Sie zündet eine Kerze an, dreht leise Musik auf. Und dann beginnt sie zu schreiben. Über jeden Patienten, der auf der Palliativstation verstorben ist, hat sie in wunderschöner Handschrift eine Seite verfasst. Gedanken, Eindrücke, Momente festgehalten. Und aus all diesen Geschichten wurden in all den Jahren 36 Bücher - die Bücher von St. Raphael!

„Am Ende geht’s darum, einfach ganz da zu sein“
„Das mache ich nie auf der Station, da brauche ich Ruhe und ziehe mich zurück, meine Familie hat das immer respektiert und mir diesen Raum gegeben!“ Silvia Vogl war Industriekauffrau, als sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester machte. „Mir war klar, ich möchte dort arbeiten, wo das Leben beginnt, oder wo es endet.“ Geburtenstation oder Hospiz. „Dabei gehört es doch zusammen. Ab dem Tag unserer Geburt steht fest, dass wir sterben werden.“ Sie hat die Station nie gewechselt, nicht nach der Karenzzeit bei der Geburt ihres Sohnes. Auch nicht als sie selbst an einer Krebserkrankung litt. Das hier war immer „ihre“ Station, und das ist so bis heute, fünf Jahre nach ihrer Pensionierung. Auch heute noch kommt sie als Ehrenamtliche an Sonntagen zu den Patienten, um für sie da zu sein. Neben den physischen gibt es so viele seelische Nöte auf einer Palliativstation. „Ich höre von verpassten Chancen, von großen Abenteuern, vom großen Wert gelungener Beziehungen.“ Kranke erzählen von Schuld, Streit, Einsamkeit. Die Rückschau der Sterbenden auf das Leben ist es, was sie und das ganze Team immer wieder daran erinnert, was im Leben wirklich wichtig ist. „Der Lebensgefährte einer Patientin hat 30 Jahre lang jedes Jahr um ihre Hand angehalten. Sie meinte immer, dass sie doch auch ohne Trauschein gut leben könnten. Als sie hierherkam, hat sie ihn gefragt, ob er sie heiraten würde. Die Hochzeit hat dann hier stattgefunden. Drei Wochen später ist sie gestorben. Aber diese drei Wochen waren wunderschön, jeden Tag, wenn er zu Besuch kam und gesagt hat: ,Ich besuche meine Frau‘, hat sie gestrahlt.“ Oder die junge Frau, die wusste, dass sie ihren 30. Geburtstag im Oktober nicht mehr erleben würde. Die „vorgezogene“ Party fand deshalb bereits einige Monate auf der Palliativstation statt.

„Die Erinnerungen in den Büchern sind auch Trost“
„Es geht hier nicht darum, Überraschungen zu inszenieren, sondern herauszufinden, was für den Menschen wichtig ist. Was ist noch ungeklärt? Was ist für die Angehörigen wichtig? Was wollen sie noch jemandem anvertrauen? Schwester Jacinta, die das Hospiz aufgebaut hatte, hat uns immer gesagt: ,Medizin ist wichtig, aber der gesunde Menschenverstand leitet euch, das Richtige zu tun. Und dann geht es darum, da zu sein. Oft sitze ich einfach nur da und halte die Hand. Da gibt es nichts zu besprechen.‘ Diese Stille am letzten Weg muss man einfach aushalten.“

Am 2. November, dem Allerseelentag, treffen einander im Festsaal des Krankenhauses Angehörige von Verstorbenen zum Gedenken. Die „Bücher von St. Raphael“ werden dann aufgelegt, die Besucher blättern darin, lesen, gedenken, weinen, lachen. „Für viele ist es ein Trost, dass da etwas festgehalten wurde. Wir wollen doch immer begreifen, was nicht begreifbar ist.“ Silvia Vogl blättert bei unserem Gespräch in den ersten Büchern, erinnert sich an Patienten, Anekdoten, Situationen. Was sie in all diesen Jahren über das Sterben gelernt hat? „Das Thema kam sehr früh in mein Leben. Ich bin mit einem Herzfehler zur Welt gekommen, meine Freundin Susi, die auch einen Herzfehler hatte, ist mit 9 Jahren gestorben. Ich lebe. Eine Krankenschwester hat mir damals sehr geholfen, diese Situation anzunehmen. Das Leben ist ein Geschenk, jeden Tag.“

„Hier erkennt man, was wirklich wichtig ist“
Eine Leserin, Melitta Steindl, hat mich auf die „Bücher von St. Raphael“ und deren Schöpferin aufmerksam gemacht. Dankbar für ihren Hinweis und den Besuch auf der Station verlasse ich das Krankenhaus an diesem Nachmittag. Der Weingarten am Fuße des Schafbergs wird von der späten Nachmittagssonne in ein orangefarbenes warmes Licht getaucht. Ich spaziere noch hinauf zu einem meiner Lieblingsplätze in der Stadt, der Kapelle am Schafberg, wo ich selbst einmal getauft wurde. Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt an dem Tag, an dem man wirklich verstanden hat, dass man nur eines hat.

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