Nach U-Bahn-Attacke

„Ich kann ihn nicht hassen, er ist seelisch krank“

Wien
18.08.2019 06:02

Es geschah am 8. Mai: Ein 36-Jähriger wurde vor einen Wiener U-Bahn-Zug gestoßen, er verlor einen Fuß. Bald findet die Verhandlung zu dem Drama statt: „Ich werde im Gerichtssaal sein“, sagt das Opfer, „denn ich will dem Mann, der mir so viel angetan hat, in die Augen sehen.“

Aufgrund eines Gutachtens von Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter gilt Mohammed Y. als seelisch hochgradig gestört. Er leidet an Schizophrenie - und kann somit nicht für sein Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Das zu erwartende Urteil bei seiner Verhandlung: die Einweisung des 20-Jährigen in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, auf unbestimmte Zeit.

Wieso wurde seine enorme Gefährlichkeit nicht eher erkannt, warum versagten bei ihm sämtliche Kontrollmechanismen? Was ist seine Lebensgeschichte? Mohammed Y. wuchs im Irak auf, mit zwei Schwestern und einem Bruder. Der Vater arbeitete dort als Mechaniker, die Mutter war Hausfrau. Schon seit seiner Kindheit, berichtete der Täter Wörgötter, habe er „Stimmen gehört“ und sich vor Menschen, die Sonnenbrillen tragen, gefürchtet.

Sozialhilfe, Drogen, Morddrohungen
„Wegen des Kriegs" habe er in seiner Heimat nur fünf Schulklassen abgeschlossen. 2015 wanderte er mit seiner Familie nach Österreich aus. Hier besuchte er unregelmäßig Deutschkurse, ging nie einer Arbeit nach, bezog monatlich 780 Euro Sozialhilfe. Seinen Angaben zufolge konsumierte er häufig Haschisch und Ecstasy, wodurch sich seine Verfolgungsideen verstärkt hätten. Immer wieder bedrohte er seine Eltern mit Mord und wurde folglich in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Zuletzt im Dezember 2018. Doch mit Unterstützung von Verwandten floh er damals aus der geschlossenen Abteilung. Zuletzt war er privat bei einem Psychiater in Behandlung, selten nahm er die ihm verordneten Pillen. Er verließ kaum sein Untermietzimmer in der Wohnung eines Freundes, aus Angst, draußen würde „das Böse“ auf ihn lauern.

„Habe mich mit meinem Schicksal abgefunden“
„Nennen Sie mich Lucky“, sagt Zdravko I. mit einem freundlichen Lächeln und erklärt dann gleich: „Seit meiner Kindheit habe ich diesen Spitznamen, ich mag ihn sehr.“ Denn „Lucky“ bedeute doch „der Glückliche“. Und als wolle er beweisen, dass es ihm gut geht, holt der 36-Jährige mit der linken Hand kräftig aus und dreht damit am Rad seines Rollstuhls. „Schön ist es da, und die Luft so klar“, betont er nun ständig, während er durch den riesigen Park fährt, der zum Weißen Hof gehört.

Wieder einmal ist „Lucky“ in dem Rehabilitationszentrum bei Klosterneuburg (NÖ) untergebracht. Zum Muskeltraining, demnächst soll ihm eine Fußprothese angepasst werden. Aber zwischendurch, das weiß der junge Mann auch, „sind im AKH noch weitere Operationen an meiner rechten Schulter geplant“. Seine Genesung, das hatten ihm Ärzte bereits am Beginn seiner Behandlung gesagt, würde lange dauern. „Und ja, ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden.“

„Plötzlich spürte ich Hände auf dem Rücken“
Sein Schicksal - diese grauenhafte Tat, die an ihm geschehen ist. Damals, am 8. Mai 2019. Zdravko I.s Erinnerungen an den Tag, der sein Leben völlig verändert hat? „Ich war verkühlt, hatte gerade meinen Hausarzt besucht, danach in einer Apotheke Medikamente besorgt - und dann wollte ich nur noch nach Hause und mich ins Bett legen. Ich stand also in der U3-Station am Westbahnhof und wartete.“ „Lucky“ trug eine Sonnenbrille, „und Kopfhörer, die mit meinem Handy verbunden waren“. Ein Zug fuhr ein. „Ich ging am Bahnsteig ein Stückchen nach vorne. Plötzlich spürte ich Hände auf meinem Rücken.“ Mit ungeheurer Kraft wurde Zdravko I. in Richtung Gleiskörper gedrängt. „Alles passierte so schnell, innerhalb von drei Sekunden, wie ich mittlerweile von der Polizei erfahren habe.“

„Ich fühlte keinen Schmerz, nur Angst“
Der 36-Jährige fiel in den Schacht. Ein Waggon über ihm, eine Notbremsung. „Ich versuchte, mich aus meinem Gefängnis zu befreien, aber ich schaffte es einfach nicht, mich zu bewegen - und ich merkte, dass ein Teil eines Beins nicht mehr an mir war.“ Schmerz? „Nein, ich fühlte keinen Schmerz, ich hatte bloß fürchterliche Angst.“ Eine Mitarbeiterin der Wiener Linien neben ihm, „die mit mir redete, mich beschwor, nicht einzuschlafen“. Sanitäter, die ihn schließlich bargen und ihm eine Spritze gaben. 48 Stunden später wachte er im Spital auf, sein ganzer Körper verbunden. Unzählige Rippen gebrochen, eine Schulter und das Becken zertrümmert, „und dort, wo einmal mein linker Fuß gewesen war, sah ich nur noch einen Stumpf“.

Täter galt seit 2018 als „tickende Zeitbombe“
„Zunächst“, sagt der 36-Jährige, „hasste ich den Mann, der mir das angetan hatte, unendlich. Jetzt, nachdem ich den Akt zu meinem Fall gelesen habe, empfinde ich fast Mitleid mit ihm: Denn er ist ja seelisch schwer krank.“ Aber auf die Behörden sei er wütend, „denn Mohammed Y. galt doch schon seit 2018 als eine ,tickende Zeitbombe‘“. Wiederholt war der 20-Jährige bereits wegen massiver Wahnvorstellungen - er fühlte sich von Personen, die Sonnenbrillen und Kopfhörer tragen, verfolgt - in psychiatrische Kliniken eingeliefert worden.

„Es hat mir nie an etwas gefehlt“
„Und niemand suchte nach ihm, nach seiner Flucht aus einer geschlossenen Einrichtung“, wenige Monate vor dem Drama. „Es hätte also jeden treffen können“, sagt „Lucky“. Warum gerade ihn? „Vielleicht, weil ich eine kleine Ewigkeit hindurch ein Glückskind gewesen bin?“, fragt er und beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Seine Eltern wanderten vor vier Jahrzehnten nach Österreich aus. „Ich wurde in Wien geboren, mir ging es hier immer prima.“

Er wuchs mit einem älteren Bruder auf, der Vater war Hilfsarbeiter, die Mutter Kindermädchen, „es fehlte uns an nichts“. Nach dem Schulabschluss machte er eine Tapeziererlehre, „zuletzt war ich bei einer großen Firma für die Logistik im Lager zuständig“. Und sonst? „Ich habe eine liebe Frau und zwei wunderbare Söhne“, sie sind 2 und 7, „und wir leben in einer hübschen Wohnung in Ottakring.“

Wenn „Lucky“ über seine Familie, seine Kinder, seinen Job, über Ausflüge, die er gerne unternimmt, spricht, wird seine Stimme zittrig und Tränen laufen aus seinen Augen: „Ich will stark sein, mich nicht fallen lassen, aber manchmal - da bricht halt doch alles über mich herein.“ Trotz der „immensen Fürsorge“ seiner Partnerin, obwohl ihm sein Chef versprochen hat, seine Stelle für ihn freizuhalten. Wann wird er wieder in sein gewohntes Dasein zurückkehren können? „Dazu gibt es keine genauen medizinischen Prognosen. Ich hoffe, dass es Anfang 2020 so weit ist.“

Bei Mohammed Y.s Verhandlung am 2. September will Zdravko I. im Gerichtssaal sein. Obwohl er nicht als Zeuge geladen wurde. Wieso der Wunsch nach einer Konfrontation mit dem Täter? „Ich denke, das gehört zu der Therapie, die ich psychisch machen muss. Es ist mir wichtig, dem Mann, der mir so viel Leid zugefügt hat, einmal in die Augen zu sehen. Eine Entschuldigung erwarte ich mir nicht von ihm.“

Martina Prewein, Kronen Zeitung

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