Größte Bedrohung

Klimaforscherin: „Es muss JETZT etwas passieren“

Österreich
23.06.2019 06:00

Zwei Fotos gehen um die Welt. Der Eisbär auf verzweifelter Suche nach Futter (siehe Video oben). Schlittenhunde, die über Wasser laufen. Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb (70) spricht im „Krone“-Interview mit Conny Bischofberger über die größte Bedrohung der Menschheit, verantwortungslose Politiker und warum JETZT etwas passieren muss.

Sie kommt mit dem Fahrrad ins Cafè „Dommayer“ in Wien-Hietzing. „Geflogen bin ich schon viele Jahre nicht mehr“, erklärt Österreichs renommierteste Klimaforscherin und überzeugte Öffi- und Zugfahrerin, stellt Rucksack sowie Fahrradhelm auf der mit dunkelrotem Samt bezogenen Bank ab und bestellt Wasser mit frisch gepresster Zitrone. Die Klimakrise ist omnipräsent: In den Schlagzeilen, im Wahlkampf, beim EU-Gipfel am vergangenen Donnerstag. Dass man sich dort vor lauter Gerangel um Top-Jobs nicht auf Klimaneutralität bis 2050 einigen konnte, hält sie schlicht für verantwortungslos.

„Krone“: Frau Kromp-Kolb, 2005 haben Sie im „Krone“-Interview gemeint, Sie seien optimistisch, dass die Menschen zur Besinnung kommen und Umweltkatastrophen zu einer Umkehr in der Klimapolitik führen. Haben Sie sich getäuscht?
Helga Kromp-Kolb: In diesen 14 Jahren ist sowohl im Bewusstsein als auch in der politischen Absichtserklärung einiges passiert. Das Pariser Abkommen war ein wirklicher Fortschritt, auch dass der Papst das Thema Klimakrise in seiner Enzyklika massiv aufgegriffen und die UNO nachhaltige Entwicklungsziele formuliert. Aber seit Paris sind schon wieder fünf Jahre vergangen und in der Realpolitik hat sich leider fast nichts getan.

Dafür finden weltweit Proteste statt. Werden diese Märsche eine Umkehr bewirken?
„Fridays for Future“ ist sicher ein weiterer Anstoß. Die Jugend wird politischer, weil es um ihre Zukunft geht, weil sie nicht mehr warten kann, bis sie an der Macht ist, sie muss die Entscheidungsträger, die jetzt da sind, zum Handeln drängen. Ich finde es eine Schande, dass sie dafür auf die Straße gehen müssen.

Greta Thunberg, die diese Bewegung ausgelöst hat, sprach von „Panik“, die die Politiker empfinden sollten. Können Sie das nachvollziehen?
Panik ist an sich ein schlechter Ratgeber, weil man darauf entweder mit Flucht oder mit Erstarrung reagiert. Aber dass wir die Sorge und die Angst spüren, die die jungen Leute haben, das finde ich schon sehr wichtig. Es ist besser, ein paar Menschen verfallen in Panik und die anderen wachen auf, als wir bleiben alle in der Untätigkeit verhaftet, in diesem „Ich nicht“ und „Wir nicht“ und „Jetzt nicht“ und „Hier nicht“.

Sollte Greta Thunberg den Nobelpreis bekommen?
Ich finde es beachtlich, dass ein junges Mädchen sich das traut und es ist schlimm, was sie an Häme aushalten muss. Ihre Kritiker konzentrieren sich lieber auf die Botschafterin als auf die Botschaft. Aber die Botschaft ist unüberhörbar. Die Zeit drängt. Es muss JETZT etwas passieren. Ich hätte nichts dagegen, dass sie den Nobelpreis bekommt. Aber noch wichtiger wäre es - bestimmt auch ihr -, dass endlich Klimapolitik gemacht wird.

Aber es machen doch jetzt alle mit Klima Politik.
Aber Schönreden allein hilft nicht. Die kommende Wahl in Österreich wird deshalb ganz wichtig. Denn der Regierung, die bis vor Kurzem an der Macht war - aber auch den Regierungen davor - muss man wirklich vorwerfen, dass sie trotz ganz klaren Zeichen einfach nichts getan hat.

Was werfen Sie ihr genau vor?
Dass in der letzten Steuerreform keine ökologische Komponente enthalten war, ist unverzeihlich. Und es gibt ein geleaktes Papier, wo Sebastian Kurz aufgelistet hat, wie er Österreich verändern will. Klima steht unter „Sonstiges“ auf Platz 74 von 76 Punkten. Da sieht man, welche Bedeutung dieses Thema für ihn hat.

Schlagen Sie sich da politisch auf eine Seite?
Ich agiere natürlich politisch, aber nicht parteipolitisch. Ich gestehe Sebastian Kurz auch zu, dass er die Bedeutung von Klimaschutz vielleicht doch noch erkennt und sich zu entsprechenden Maßnahmen verpflichten wird. Es reden ja jetzt alle Parteien über Klimaschutz, während es bei der vorigen Wahl noch geheißen hat: Damit kann man nichts gewinnen. Also muss man sich das im Wahlkampf genau anschauen und danach entscheiden.

Das Foto des Eisbären, der sich in eine sibirische Großstadt verirrt, weil sein Lebensraum schrumpft, bewegt gerade die Welt. Sie auch?
Ja, natürlich. Es ist dramatisch und sicher ein sehr starkes Symbol. Aber der Eisbär in Sibirien wirkt auch sehr weit weg, so als hätte er nichts mit uns zu tun. In Wahrheit ist die globale Erwärmung für ganz viele Pflanzen und Tierarten dramatisch. Ein aktueller Bericht spricht davon, dass eine Million von acht Millionen Tier- und Pflanzenarten gefährdet sind. Jeder sieht, dass bei uns die Insekten verschwinden, dass es bald keine Singvögel mehr gibt. Früher hat man im Garten die Vögel zwitschern gehört, heute hört man kaum mehr was. Wir sprechen bereits von einem Massenaussterben. Da brauch ich gar nicht bis Sibirien oder Grönland zu schauen.

Wie lautet Ihre Bestandsaufnahme für Österreich?
Schauen wir uns die Wälder in Niederösterreich und Oberösterreich an: Zerfressen vom Borkenkäfer und geschlägert, um den Borkenkäfer wieder loszuwerden. Wir haben im Süden von Stürmen umgeworfene Bäume und dramatische Murenabgänge. In Vorarlberg ist letzten Sommer der Spiegel des Bodensees so weit gesunken, dass die Stege nicht mehr bis zum Wasser geführt haben. Dieser Juni wird der heißeste seit Langem. Die Veränderung ist längst bei uns angekommen.

Ihre Prognose? Ist der Klimawandel noch aufzuhalten? Oder ist es schon zu spät?
Wir sind an einem Scheideweg angekommen. Der eine Weg führt zur Stabilisierung des Klimas - und der letzte Bericht des Weltklimarates bestätigt, dass wir das dafür notwendige +1,5 Grad-Celsius-Ziel noch einhalten können. Wenn wir aber so weitermachen wie bisher, dann werden wir diese 1,5 Grad vielleicht schon 2035, spätestens aber 2050, überschreiten. Dieser andere Weg birgt die Gefahr, dass wir in eine Klimakatastrophe kommen, bei der der Temperaturanstieg nicht mehr zu bremsen ist.

Was würde das bedeuten?
Die Hitze würde unerträglich und Sommer wie 2003 bei uns an der Tagesordnung sein, die landwirtschaftliche Produktion würde drastisch zurückgehen und der Meeresspiegel würde dramatisch ansteigen. Sogar bei zwei Grad steigt er langfristig, über 1000 Jahre, um 40 bis 50 Meter. Staaten wie Belgien oder die Niederlande wären dann unter Wasser, Berlin fast eine Küstenstadt, von Venedig brauchen wir gar nicht zu reden. Dazu kämen schon bis Mitte dieses Jahrhunderts auch zig Millionen Klimaflüchtlinge.

Was muss sofort passieren?
Eine sozialökologische Steuerreform. Es gibt eine schöne Analyse vom WIFO, nicht gerade eine grüne Organisation, die zeigt, dass wir mit der Besteuerung von fossilen Energien zum Beispiel eine siebenprozentige Senkung der Treibhausgasemissionen zustandebringen und diese Mittel verwenden könnten, um Menschen, die weniger verdienen, einen Klimabonus auszuzahlen. Diese Personen hätten dann einen Einkommenszuwachs von drei Prozent, während die Vielverdiener einen Verlust von einem Prozent hätten. Das wäre ein möglicher Schritt. Der Klimawandel ist Bedrohung. Klimaschutz kann Verbesserung der Lebensbedingungen bedeuten.

Was sagen Sie Leuten, die behaupten, die globale Erwärmung sei natürlich, der Klimawandel wäre ein wiederkehrendes Naturphänomen?
Klimawandel ist keine Glaubensfrage! Es kann ja auch niemand behaupten, er glaube nicht an die Erdanziehungskraft, das macht einfach keinen Sinn. Hier geht es um wissenschaftliche Tatsachen. Die Beweislage ist klar. Deshalb diskutiere ich das auch nicht mehr. Mir ist auch nicht klar, wieso einige Leute - darunter der amerikanische Präsident - glauben, Fakten und Messwerte besser interpretieren zu können als die Wissenschaftler weltweit.

Kann der Einzelne wirklich etwas tun, wenn sich die EU nicht einmal einigen kann?
Natürlich. Abgesehen von einer verantwortungsbewussten Entscheidung bei der Wahl kann jeder in seinem Bereich Energie sparen, auf erneuerbare Energien umsteigen. Seine Mobilität überdenken, viel zu Fuß gehen, mit dem Rad und den Öffis fahren. In der Ernährung: Weniger Fleisch essen, mehr regional, saisonal, biologisch. Das ist nicht nur für die Umwelt besser, sondern auch für unsere Gesundheit. Langlebige, reparierbare Gebrauchsgüter kaufen - oder noch besser ausleihen.

Darf man noch fliegen?
Man sollte sich gut überlegen, ob es wirklich notwendig ist. Denn so wie wir unsere Eltern gefragt haben: Wie war das im Nationalsozialismus? Was hast du gewusst? Was hast du getan? Genauso werden uns einmal unsere Kinder und Enkel fragen: Wie war das beim Klima? Was hast du gewusst? Was hast du getan? Wenn ich dann antworte: „Ich bin trotzdem auf Shoppingtour nach London geflogen“, wäre das keine schöne Antwort.

Sind Sie manchmal deprimiert über die Unfähigkeit der Weltgemeinschaft, sich auf verbindliche Klimamaßnahmen zu einigen?
Ja. Das ist ein ewiges Auf und Ab. Ich freue mich über die Aktivität der Jugend, und ich bin deprimiert über die Ignoranz der Politik. Die Wissenschaft bewegt sich gerade aus ihren Zirkeln heraus und verbreitet sehr viel Information zum Thema. Wir arbeiten auch an einem nationalen Energie- und Klimaplan. Nicht als Blaupause für die nächste Regierung, sondern als Referenz. Weil wir nicht mehr länger zuschauen können, wie Jahr um Jahr verstreicht und nichts passiert und man immer nur vertröstet wird. Wissen bringt auch Verantwortung mit sich. Insofern bin ich auch heute wieder positiv gestimmt, weil sich viel bewegt. Ob es reicht, weiß ich nicht. Aber ich möchte meinen Teil dazu beigetragen haben.

Auch in der Pension kämpft sie weiter
Geboren am 14. November 1948. Die Meteorologin und Klimaforscherin mit dem Spezialgebiet Klimawandel leitete viele Jahre lang das Institut für Meteorologie an der Boku Wien sowie das Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit. Seit 2017 ist sie in Pension. 2005 wurde Helga Kromp-Kolb Wissenschaftlerin der Jahres. Verheiratet ist die überzeugte Rad-, Öffi- und Zugfahrerin mit dem Physiker und Risikoforscher Wolfgang Kromp. Autorin des Buches „+ 2 Grad - warum wir uns für die Rettung der Welt erwärmen sollten“ (Molden Verlag).

Conny Bischofberger, Kronen Zeitung

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