Bitterer Sieg

Europas „große Koalition“ hat keine Mehrheit mehr

Ausland
27.05.2019 03:12

Die Europäische Volkspartei mit ihrem Spitzenkandidat Manfred Weber geht als Sieger aus der EU-Wahl hervor. Nach den Berechnungen kommt die EVP auf 179 Mandate (bisher 221). Die Sozialdemokraten (S&D) liegen 27 Mandate dahinter. Sie zählt nun 152 statt 191 Abgeordnetensitze. Es ist jedoch ein Sieg mit schalem Beigeschmack für die EVP, denn beide traditionelle Volksparteien fuhren starke Verluste ein und kommen erstmals in der Geschichte nicht mehr auf eine gemeinsame Mehrheit. Mehrheiten zu bilden, wird somit künftig schwieriger in Europa. Trotz leichter Zugewinne der Rechten und EU-Kritiker ist aber weiter eine deutlich pro-europäische Mehrheit vorhanden.

Die EVP sank um 42 Mandate, die S&D verlor 39 Abgeordnete gegenüber ihrem aktuellen Mandatsstand. Damit liegen die beiden Großfraktionen zusammen zwar etwas besser als noch am Sonntagabend zunächst prognostiziert, kommen mit insgesamt 331 von 751 Plätzen aber bei weitem nicht mehr auf eine gemeinsame Mehrheit, für die mindestens 376 Mandate nötig wären. 

Gemeinsam fehlen den beiden großen Fraktionen 45 Sitze auf die absolute Mehrheit. Bisher hatten die beiden Parteienfamilien die EU-Topjobs untereinander aufgeteilt, was nun nicht mehr möglich sein wird. Bei der Europawahl 2014 hatten sie 221 bzw. 191 Sitze erreicht.

OGM-Meinungsforscher und Politikexperte Christoph Haselmayer hat im krone.at-Talk mit Damita Pressl seine Einschätzung zu den EU-weiten Ergebnissen abgegeben (siehe Video oben).

EVP-Spitzenkandidat Weber steht mit dem Wahlsieg seiner Fraktion derzeit zwar in der Pole Position für den Posten des Kommissionspräsidenten und damit für die Nachfolge von Jean-Claude Juncker. Allerdings ist fraglich, ob er im Abgeordnetenhaus dafür auch eine Mehrheit bekommt. Denn der bayrische CSU-Politiker Weber ist durch den Verlust der Mehrheit von Konservativen und Sozialdemokraten auf die Unterstützung einer dritten Fraktion angewiesen, was die Einigung auf einen Kommissionspräsidenten erheblich schwieriger machen wird.

Möglich wäre dies nach derzeitigem Stand sowohl mit den Liberalen (ALDE) als auch mit den Grünen. Die Liberalen als eine der möglichen Königsmacher des künftigen Kommissionspräsidenten konnten ihre Zugewinne gegenüber der ersten Berechnung noch verbessern. Sie stellen künftig 105 Mandate gegenüber ihrem derzeitigen Stand von 67. Ihre Zugewinne verdanken die Liberalen vor allem der Partei von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, La République en Marche, die sich ALDE anschließen will. Die Grünen - auch sie könnten Mehrheitsbeschaffer werden - kommen laut jüngsten Prognosen auf 69 Sitze im EU-Parlament (derzeit 50).

Liberale sehen Aus der „Großen Koalition“ als ihr Verdienst
Die Liberalen sehen das Aus der Mehrheit von Konservativen und Sozialdemokraten im neuen EU-Parlament auch als ihr Verdienst an. „Das ist dem Umstand geschuldet, dass wir Zulauf bekommen haben“, sagte Fraktionschef Guy Verhofstadt am Sonntagabend in Brüssel. Ob seine Fraktion Manfred Weber von der EVP als Kommissionspräsident unterstützen wird, ließ er offen. Das Wahlergebnis bzw. der Erfolg der Liberalen habe auch gezeigt, dass es eine „Gegenbewegung zu den Nationalisten und Populisten“ gebe. So könnte der innenpolitisch geschwächte Macron trotz seiner Niederlage gegen Marine Le Pens Rechtspopulisten den „Königsmacher“ im Europaparlament spielen.

„Grüne haben Mandat für Wandel bekommen“
Auch Grünen-Spitzenkandidatin Ska Keller zeigte sich glücklich über das voraussichtliche Ergebnis der europäischen Grünen. „Wir haben ein Mandat für Wandel bekommen“, sagte Keller und zählte „echten Klimaschutz und ein soziales Europa“ sowie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Prioritäten auf.

Rechtes Lager insgesamt gestärkt
Gestärkt aus der Wahl gehen die rechten bzw. europakritischen Fraktionen aus der Wahl hervor. Zulegen konnte vor allem die ENF (Europa der Nationen und der Freiheit), der auch die FPÖ angehört, sowie die EFDD (Europa der Freiheit und der direkten Demokratie). Sie liegen bei 60 und 51 Sitzen. Die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), denen unter anderem die polnische PiS und die britischen Tories angehören, kommen hingegen nur noch auf 60 statt 70 Sitze.

Rein rechnerisch könnten auch die Rechten Mehrheitsbeschaffer im neuen EU-Parlament werden, politisch sind Koalitionen unter den pro-europäischen Parteien allerdings wahrscheinlicher. Spannend bleibt, ob sich die drei EU-kritischen Fraktionen am rechten Rand überhaupt zusammenschließen werden.

Die Linke kommt laut Prognose auf 38 (bisher 52) Sitze. Neue Parteien werden unter Sonstige (30 Sitze) zusammengefasst. Die Zahl der Fraktionslosen wird auf sieben geschätzt.

Weber sagte, es sei für EVP, Sozialdemokraten und Liberale an der Zeit, „ab jetzt zusammenzuarbeiten“. Angesichts steigender Wahlbeteiligung in vielen EU-Ländern sah Weber am Sonntagabend auf der Wahlparty der CDU in Berlin eine „klare Stärkung“ des Europaparlaments. Dieses müsse nun auch „maßgeblichen Einfluss auf Inhalte und die Personalgestaltung“ in der EU haben.

Vor allem um Letzteres wird es in den nächsten Tagen und Wochen gehen: Das Europaparlament pocht darauf, dass - wie 2014 mit dem gleichfalls Konservativen Jean-Claude Juncker - nur ein Spitzenkandidat nächster Präsident der EU-Kommission werden kann. Die EU-Staats- und Regierungschefs sehen dagegen „keinen Automatismus“ in der Personalfrage und behalten sich vor, auch einen anderen Bewerber vorzuschlagen.

Wobei auch der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Frans Timmermans, noch in der Nacht auf Montag erklärte, er stelle keinen „Anspruch“ auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. „Meine politische Fraktion hat verloren, deshalb müssen wir bescheiden sein und ein klares Programm präsentieren“, betonte Timmermans.

Demokratie als großer Gewinner der EU-Wahl
Wie immer die Mehrheiten in dem nächsten, stärker fraktionierten Europaparlament zusammengesetzt sind: Die Demokratie zählt zu den größten Gewinnern dieser EU-Wahl. Erstmals seit der ersten Direktwahl 1979 wurde der Negativtrend durchbrochen und die Wahlbeteiligung stieg laut Schätzungen auf über 50 Prozent. In fast allen EU-Staaten gingen mehr Wähler an die Urnen als 2014 - von Politikverdrossenheit und Europa-Müdigkeit also keine Spur.

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