Strafe "zu gering"

“Sitten”-Urteil auch innerhalb der Justiz nicht unumstritten

Wien
25.01.2010 13:00
Das Urteil des Wiener Straflandesgerichts (Bild), mit dem einem türkischstämmigen Mann, der seiner scheidungswilligen Ehefrau mit einem Messer und einem Stahlrohr lebensgefährliche Verletzungen zugefügt hatte, eine allgemein begreifliche, heftige Gemütsbewegung zugebilligt wurde, sorgt nach wie vor für Diskussionen.

Innerhalb der Justiz ist die Entscheidung, dem Mann versuchten Totschlag zuzugestehen, nicht unumstritten. Als langjähriger richterlicher Standesvertreter in Strafsachen und Richter des Oberlandesgerichts verwehre er sich gegen "Ansichten, wonach eine heftige Gemütsbewegung, die insbesondere in einer herkunftsbedingten, gegenüber Frauenrechten mitteleuropäischen Standards ablehnenden Haltung wurzelt, in Österreich allgemein begreiflich sein soll", meinte Johannes Jilke am Montag.

Unabhängig vom konkreten Fall, zu dem er weder Stellung nehmen könne noch wolle, entspräche eine derartige Haltung "keineswegs den von den österreichischen Strafgerichten zur vertretenden zeitgemäßen gesellschaftlichen Wertvorstellungen", gab der OLG-Richter zu bedenken.

Beweislage nicht ausreichend für Geschworenenprozess
Die Staatsanwaltschaft hatte gegen den 1980 nach Österreich gekommenen und seit 1990 mit der österreichischen Staatsbürgerschaft versehenen Mann Anklage wegen versuchten Totschlags erhoben, nachdem sich seine Ehefrau der Aussage entschlagen hatte und die Beweislage offenbar als nicht ausreichend angesehen wurde, um damit vor ein Geschworenengericht zu gehen.

Staatsanwälte scheuen Verfahren vor Laienrichtern
Ein Umstand, der Jilke aus eigener, langjähriger persönlicher Erfahrung zu denken gibt: "Leider lehrt die in Geschworenenverfahren hohe laienbedingte Fehlerquote, dass Staatsanwälte, denen diesbezüglich gar kein Vorwurf zu machen ist, in Zweifelsfragen die Anklage vor dem Geschworenengericht zu recht scheuen und solcherart die dem Rechtsstaat weitaus dienlichere Abhandlung vor dem Schöffengericht vorziehen." Im Gegensatz zu Schwurgerichten, wo ausschließlich juristische Laien die Schuldfrage klären, beurteilen in Schöffenverfahren Berufs- und Laienrichter gemeinsam die Schuld bzw. Schuldlosigkeit des Angeklagten.

Wertvorstellungen "schlicht mit Füßen getreten"
Er habe es immer wieder erlebt, dass speziell in Sexualstrafsachen männliche Geschworene mit Migrationshintergrund "im Zusammenhang mit Frauenrechten Wertvorstellungen an den Tag gelegt haben, die als verheerend zu bezeichnen sind. Diese wurden dabei schlicht mit Füßen getreten", so Jilke, der nicht zuletzt deshalb "die rasche Abschaffung der mit einem Rechtsstaat moderner Prägung überhaupt nicht zu vereinbarenden Geschworenengerichtsbarkeit" verlangt.

Für die Oberstaatsanwaltschaft (OStA) Wien, der gegenüber der zuständigen Staatsanwaltschaft die Dienstaufsicht zukommt, war demgegenüber das Vorgehen der Anklagebehörde "in Ordnung", wie OStA-Leiter Werner Pleischl erklärte. Der Staatsanwalt habe "eine besondere Form des Mordversuchs angenommen. Das kann man, gestützt auf den Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, auch so sehen".

Urteil "nicht an den Haaren herbeigezogen"
Pleischl räumte ein, die Debatte um die Totschlag-Anklage und das auf Basis dieser Anklage ergangene Urteil sei in Bezug auf Gewalt gegen Frauen, Frauenrechte und Täter mit Migrationshintergrund "nicht an den Haaren herbeigezogen". Dabei handle es sich allerdings "um eine aufgesetzte politische Diskussion, an der wir uns nicht beteiligen".

Strafe "ist aus unserer Sicht zu gering"
Bei einem Strafrahmen von bis zu zehn Jahren hatte der wegen versuchten Totschlags schuldig erkannte Ehemann sechs Jahre Haft ausgefasst. Für versuchten Mord hätten ihm zehn bis 20 Jahre gedroht. Die Staatsanwaltschaft hat den Schuldspruch akzeptiert, jedoch gegen das Strafausmaß Berufung eingelegt. "Die Strafe für das konkrete Verletzungsdelikt ist aus unserer Sicht zu gering", erläuterte Pleischl.

Sohn erklärt, dass er Frau "irgendwann umbringen" werde
Im konkreten Fall hatte der Mann schon länger von den Scheidungsabsichten seiner Frau gewusst, die sich nicht zuletzt wegen erlebter Gewalttätigkeiten von ihm trennen wollte. Wenige Stunden vor der Tat hatte der 1980 nach Österreich ausgewanderte Türke einem seiner Söhne erklärt, er halte dieses Situation nicht mehr aus und werde die Frau "irgendwann umbringen".

Selbst ranghohe Justizvertreter zweifeln daher daran, ob sich diese Ausgangslage mit dem Ehemann vergleichen lässt, der unerwartet nach Hause kommt und seine Frau völlig überraschend mit seinem besten Freund im Schlafzimmer vorfindet - eine Fallkonstellation, die Generationen von Jus-Studenten als das Paradebeispiel einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung geschildert bekommen haben, die abstrakt geeignet wäre, dem Mann einen Totschlag zuzubilligen.

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