Sprache als Nahrung

Herta Müller las im Literaturhaus Graz

Steiermark
15.01.2010 09:40
Herta Müller (Bild), die Literatur-Nobelpreisträgerin 2009, hat am Mittwochabend im Literaturhaus Graz aus ihrem aktuellen Roman "Atemschaukel" gelesen. Der Ansturm war groß, die Begeisterung ebenfalls. Und das, obwohl das Buch über das Überleben in einem sowjetischen Arbeitslager alles andere als Wohlfühl-Literatur ist.

Wenn Herta Müller spricht, wirkt ihre Stimme, als ob sie schon lange nicht mehr richtig durchgeatmet hätte, als halte sie den Atem an, um die Zeit zu durchtauchen, in der sich die Masse um sie reißt. Man gönnt der stillen Autorin den riesigen Erfolg, der ihr seit der Bekanntgabe der Nobelpreis-Ehren beschienen ist, ist sich aber gleichzeitig unsicher, ob sie ihn sich in dieser Form je gewünscht hat.

"Fühle mich missbraucht"
Denn wo Erfolg ist, sind neben Neidern auch Menschen, die an dem Erfolg mitnaschen wollen: "Ich fühle mich missbraucht", muss Müller sich gleich zu Beginn der Lesung von der Meldung distanzieren, einer ihrer Texte werde in einer Publikation der steirischen Volkspartei erscheinen. (Es werde ein lizenziertes und bereits veröffentlichtes Werk - Buch und CD - einem Jahrbuch begelegt, stellte am Donnerstag die ÖVP richtig.) Zudem muss man sich fragen, ob die Promi-Dichte bei der Lesung die Gleiche gewesen wäre, hätte Müller keinen Nobelpreis bekommen.

Wohler scheint sich die Autorin erst zu fühlen, als sie beginnt, aus dem Roman zu lesen. Dabei ist "Atemschaukel" alles andere als ein Wohlfühlroman. Gemeinsam mit dem 2006 verstorbenen Büchner-Preisträger Oskar Pastior hat sie den Stoff erarbeitet. Pastiors Erfahrungen im sowjetischen Gefangenenlager waren Anhaltspunkte für die Romanfigur Leopold Auberg. Generell ist Müllers Lebenswerk geprägt von Erfahrungen mit Diktatur und dem Gefühl des Fremdseins – Themen, die sie in Prosalandschaften verdichtet.

In Graz findet Roman sein Ende
Auch Graz spielt in "Atemschaukel" eine Rolle. Es ist nicht nur der Ort, an dem Pastior wenige Tage vor seinem Tod seine letzte Lesung hielt, wie Literaturhaus-Chef Gerhard Melzer vor dem Auftritt Müllers erzählte. Es ist auch der Ort, an dem der Roman sein Ende findet. Graz wird zum symbolischen Ort für die Heimatlosigkeit und Selbstentfremdung, für den irreparablen, unausweichlichen Schaden, den das Lager in Auberg hinterlassen hat.

Dass "Atemschaukel" bei all dem Horror ein Buch von so poetischer Schönheit ist, liegt am unerschütterlichen Glauben an die subversive Kraft der Sprache, der Müller und Pastior verband. Im Lager, wo der "Hungerengel" ein ständiger Begleiter ist, wird die Sprache – das Vorsagen von Gedichten, das Singen von Liedern, das Imaginieren von literarischen Szenen – zum Hauptlebensmittel, zum Überlebensgrund.

Diese Einstellung Pastiors, "dennoch" leben und schreiben zu wollen, hat Müller auch dazu bewegt, das Buch nach seinem Tod "dennoch" zu schreiben. Und es ermutigt sie heute wohl auch, den momentanen Hype um ihre Person zu ertragen und "dennoch" zu lesen. Müller stellt ihr Werk vor ihre Biografie, auch wenn sie ihre Biografie oft zu ihrem Thema macht. Diese Selbstlosigkeit in der literarischen Verarbeitung eigener und ihr zugetragener Erfahrungen macht Müller – neben ihrer unglaublichen Sprachfertigkeit – zu einer bemerkenswerten Autorin.

von Christoph Hartner ("Steirerkrone") und steirerkrone.at

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