Zwangsheirat in Türkei

Melina: „Habe Angst, dass die Familie mich findet“

Österreich
08.10.2018 09:27

„Eins hab ich gelernt. Man kann am Flughafen sagen, dass man entführt wird.“ Melina sagt es mit zarter Stimme, während sie abermals ihre Koffer packt. Wieder ist sie auf der Flucht, aus Angst vor der eigenen Familie, nur weil sie wie eine ganz normale Frau - westlich - leben will. Melina erzählt krone.at von ihrer Zwangsverlobung, der Verheiratung nach islamischem Recht in der Türkei, von Projektwochen, an denen sie nicht teilnehmen durfte, von ihrer Lehre, die sie abbrechen musste. Seit Dezember 2017 ist ihr auch die türkische Community auf den Fersen, denn ein Erdogan-naher Reporter veröffentlichte ein Facebook-Video, in dem die Eltern der 22-Jährigen um Infos zum Verbleib ihrer geflüchteten Tochter bitten. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie Melina aufspüren.

Ihre Not-WG ist nur mit dem Allernötigsten eingerichtet. Einzelne pinke Gegenstände stechen hervor, als würden sie mehr Farbe in das Grau ihres Lebens bringen. Die Vorhänge werden für das Gespräch zugezogen. Seit sie ein Teenager ist, kämpft Melina gegen die türkische Familienkultur. Aufgewachsen in Oberösterreich, zwei Geschwister. In der Nähe von Linz ist sie auch zur Schule gegangen. Ihr Vater ist wohlhabender Chef einer Baufirma. Trotzdem, erzählt die junge Muslimin, durfte sie keine Freunde haben, der Vater sei gewalttätig gewesen und habe sie so eingeschüchtert, dass sie das Haus nur in Begleitung der Mutter verlassen hat. „Dann war es meine Aufgabe, nichts zu sagen und auf die Geschwister am Spielplatz aufzupassen.“

„Ich musste immer lügen“
Aber auch die Schulzeit wollten ihre Eltern unter Kontrolle haben: „Ich musste immer lügen und sagen, dass ich nicht mit auf Projektwoche will, obwohl das nicht stimmte. Weil ich ein Mädchen bin und in der Projektwoche Mädchen und Jungs gemischt sind, hatten meine Eltern Angst, dass etwas passieren könnte.“ Melina bekam Depressionen und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie war danach auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Aber sie kämpfte weiter: „In der türkischen Kultur ist es so, dass Jungs immer höhergestellt werden als Mädchen. Mädchen sollten genauso die Ausbildung, die Schule oder die Arbeit machen können. Wenn meine Eltern ein bisschen nachdenken würden, was sie an Fehlern gemacht haben, hätte das alles nicht so geendet. Dann wäre ich jetzt bei meiner Familie und nicht hier.“

„Man kann am Flughafen sagen, dass man entführt wird“
Dann erzählt Melina von der Zwangsverheiratung. Eines Tages sei sie am Flughafen Wien-Schwechat aufgewacht und in die Türkei verschleppt worden. Der Plan der Familie: Sie soll dort einen Ehemann bekommen. „Auch, wenn sie jetzt sagen, das wollte ich selber, stimmt das nicht. Mit einer neuen SIM-Karte habe ich Leute in Wien um Hilfe gebeten. Dann bin ich von der Gendarmerie abgeholt und durch das Außenministerium zurück nach Österreich überstellt worden. Da habe ich gelernt, man kann am Flughafen sagen, dass man entführt wird“, erinnert sich Melina. Es folgten Aufenthalte in Frauenhäusern, Frauen-WGs und Notwohnungen. Ihre Lehre als Einzelhandelskauffrau hat sie wegen der jahrelangen Flucht nie abschließen können.

Im Dezember 2017 postet ein Reporter, der auch Pressesprecher der AKP-nahen Union Europäischer Türkischen Demokraten war, auf seiner Facebook-Seite ein Video, um den Eltern von Melina bei der Suche nach ihrer Tochter zu helfen. Es ist ein Aufruf an die gesamte türkische Community. Es dauerte nicht lange, bis zahlreiche Hinweise im Web geteilt wurden. Als krone.at und Melina den Clip ansehen, bricht sie in Tränen aus. In dem Video weint Melinas Mutter und hält ein Foto von ihr aus Schulzeiten, auf dem sie Kopftuch trägt, mitten in die Kamera und erzählt, wie sehr sie ihre Tochter vermissen würde.

„Da wusste ich, ich muss weiterziehen“
„Es ist zu Hause nie etwas passiert“, schwört sie, „ich würde alles geben, um sie wiederzusehen.“ Die Aktion war erfolgreich. Denn schon bald postete ein User: „Ich habe sie heute in Wien gesehen.“ „Da wusste ich, ich muss weiterziehen“, erzählt Melina. Und: „Dann waren sie auf der Suche nach mir. Ich war vorsichtig und hab mich zu Hause versteckt. Nach drei bis vier Monaten waren sie vor der Wohnung, dann habe ich die Polizei gerufen, die konnten aber nichts machen. Am nächsten Tag waren sie wieder vor der Notwohnung.“ Daraufhin ergriff Melina erneut die Flucht. Der entscheidende Hinweis über ihren Aufenthalt kam von einer Nachbarin, von der Melina gar nicht wusste, dass sie Türkisch spricht. Ob Melina noch Kopftuch trägt wie auf dem Schulfoto im Beitrag? „Nein, das habe ich abgelegt.“ Auf die Frage wieso, antwortet sie: „Ich wollte das nicht mehr.“

Bereits sieben Mal hat sie in Österreich neu angefangen. Die Angst, ihre Familie könne durch das Video auf Facebook (das noch immer online ist) jederzeit einen entscheidenden Tipp zu ihrem Aufenthaltsort bekommen, bestimmt ihr Leben. Melina ist sich sicher: Falls sie ihre Eltern je wiedersieht, wird ihr Vater seine „angesammelte Wut“ an ihr auslassen. „Ich habe Angst davor, dass mich meine Familie wiederfindet.“

„Ein Mädchen pro Jahr gerettet“
Das Außenministerium bestätigte Melinas Rettung. Sprecher Peter Guschelbauer spricht von etwa einem Fall pro Jahr, in dem Mädchen gegen ihren Willen im Ausland verheiratet und dank eines Zugriffs durch Behörden zurück nach Österreich geholt werden. „Grundsätzlich übt das Außenministerium hier den konsularischen Schutz aus. Dies erfordert im Inland eine enge Zusammenarbeit mit mehreren Stellen.“ 

Die Dunkelziffer der zwangsverheirateten Österreichischen Mädchen dürfte in Wirklichkeit aber noch viel höher sein. Wohin Melina diesmal aufbricht, will sie auch krone.at nicht verraten.

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