Kolumne „Im Gespräch“

Von der Unvernunft, die uns das Leben versüßt

Leben
13.05.2018 08:00

Es war einer meiner ersten Besuche im Pflegeheim. Ich hatte gerade meine Ausbildung zur Pfarrerin begonnen. Als ich Herrn Filipovic gesehen habe, war ich schockiert: Er war von oben bis unten voller Kaffee. Und auch sonst verriet seine Kleidung einiges über den Speiseplan. „Warum kümmert man sich nicht ordentlich um den alten Herrn?“, habe ich mir gedacht. Muss er so bekleckert herumlaufen?

Ich glaube, so wie mir damals geht es vielen, die ihre Angehörigen im Pflegeheim besuchen. Wir finden, die alten pflegebedürftigen Menschen sollen sauber und satt sein. Dann wissen wir, dass sie gut versorgt werden.

Heute sehe ich das anders. Das verdanke ich Frau Gattermaier. Bei einem Besuch hat sie mir erzählt, dass sie etwas Interessantes im Radio gehört hat. Sie weiß nicht mehr, in welcher Sendung - aber was sie gehört hat, das weiß sie ganz genau: dass alte Menschen, wenn es ans Sterben geht, sagen dürfen, was sie wollen. Was sie essen wollen, und ob sie etwas essen wollen, und wie viel sie trinken wollen.

Dürfen alte Menschen sagen, was sie wollen?
Sie selbst quäle sich, erzählte sie, mit dem Abnehmen. Im Heim habe man gesagt, sie muss. Sie sei zu schwer, die Pflegenden schaffen das nicht. Aber das Abnehmen gelingt ihr kaum. Und sie würde so gerne mal ein weiches Ei essen. Sie hat auch danach gefragt, aber das gibt es im Heim nicht. Überhaupt, sie werde von den Pflegekräften ständig aufgefordert, alles selber zu machen. Mobilisierung zur Selbstständigkeit würden sie das nennen. Im Befehlston! Das behage ihr nicht. Wenn das stimme, was sie gehört hat - dass alte Menschen sagen dürfen, was sie wollen -, das wäre was!

Es stimmt! Alte Menschen, die Pflege brauchen, dürfen sagen, was sie wollen. Gute Pflege erschöpft sich nicht im Abarbeiten von Checklisten von Pflegeleistungen. Gute Pflege beschränkt sich nicht darauf, dass Menschen aufs Klo gehen können, sauber sind, genug essen und trinken. Für das Wohlergehen alter Menschen, die Pflege brauchen, sorgen heißt auch, ihre Wünsche wahrnehmen. Was Frau Gattermaier will, ist nicht unbedingt vernünftig; vernünftig wäre abnehmen - aber wer will sich schon quälen, wenn ein weiches Ei so gut schmeckt!

Kleine Unvernünftigkeiten versüßen unser Leben
Wir, die wir in unseren eigenen vier Wänden wohnen und für uns selbst sorgen, sind auch immer wieder unvernünftig und tun Dinge, die nicht unbedingt gut sind für uns: zu viel Schokolade essen oder Alkohol trinken, zu wenig Bewegung machen oder am Samstag bis am Abend ungeduscht im Pyjama herumlaufen. Die kleinen Unvernünftigkeiten versüßen unser Leben. Und so denke ich mir heute: Herr Filipovic wollte sich vielleicht schlicht und ergreifend nicht umziehen. Wieso soll er nicht bekleckert durchs Pflegeheim laufen? Schließlich ist er dort zu Hause.

Pfarrerin Dr. Maria Katharina Moser, Kronen Zeitung
maria.moser@glaubenskirche.at

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(Bild: kmm)



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