71 Tote auf der A4

Schlepperboss: „Als hätte ich Familie verloren“

Österreich
19.04.2018 16:21

„Öffnet nicht die Türen! Fahrt weiter! Und wenn sie sterben, dann ladet die Leichen irgendwo in Deutschland ab!“ Diese Aussagen stammen vom Hauptangeklagten im A4-Schlepperprozess im ungarischen Kecskemet, die im Zuge abgehörter Telefonate mit seinen Schlepperkomplizen sichergestellt wurden. Nach wochenlangem Vorspielen der Telefongespräche hat sich am Donnerstag der von der ungarischen Staatsanwaltschaft als Bandenchef geführte Afghane in einer persönlichen Erklärung zum qualvollen Tod der 71 Flüchtlinge in einem versiegelten Kühl-Lkw geäußert und die Ereignisse in der Nacht zum 27. August 2015 bedauert. Es sei, „als hätte ich die eigene Familie verloren“, meinte der 31-Jährige.

Der Afghane, der 2012 nach Ungarn gekommen war und Schutzstatus erhalten hatte, beschrieb auch seinen Einstieg in das Schleppergeschäft. Seinen Angaben zufolge war er nach Aufenthalten in diversen Flüchtlingslagern mit rechtskonformen Papieren ausgestattet nach Budapest gekommen. Aus Afghanistan ließ sich der Mann sein Vermögen von 150.000 Dollar überweisen, das „nicht aus Straftaten stammte“, wie er betonte. Mit einem Teil des Geldes eröffnete er in der ungarischen Hauptstadt ein Internetcafé.

Internetcafé lief nicht gut, Schleppungen waren lukrativer
Weil das Lokal nicht gut lief, suchte er Rat bei einem Landsmann, der als Geldwechsler agierte. Auf dessen Vorschlag stieg der Hauptangeklagte in das sogenannte Hawala-System ein, wie aus seinen Ausführungen hervorging. Die Bezahlung bei Schleppern erfolgt häufig über dieses Überweisungssystem der muslimischen Welt. Es basiert auf einer Geldübergabe über Vertrauensmänner und hinterlässt kaum Spuren. Hawala kommt aus dem Arabischen und hat seinen Ursprung im frühmittelalterlichen Handelswesen des Nahen und Mittleren Ostens.

„Amin und Kairo sind die wahren Chefs“
Um 50.000 Euro erwarb der Hauptangeklagte von einem Afghanen eine SIM-Karte mit Kontaktdaten und damit dessen Kunden. Pro Überweisung kassierte er fünf Prozent an Gebühren. Aus verschiedenen Lagern in Ungarn seien Schleppungen organisiert worden. Als Chefs der Organisation bezeichnete der Mann den flüchtigen zwölften Angeklagten, Amin, sowie einen Mann namens Kairo.

Er sei „nur der Mittelpunkt der Organisation in Ungarn“ gewesen, so der 31-Jährige. „Ein Dummer kann nicht schleppen, das können nur kluge Menschen. Die Schlepperei ist ein Schachspiel, doch nicht die Spieler sitzen hier“, spielte der Afghane seine Rolle in der gesamten Hierarchie herunter.

Fuhrparkchef wollte „alles an sich reißen“
Seiner Ansicht nach war er also ebenfalls nur ein kleines Rädchen, dem die großen Bosse aber durchaus vertrauten. Denn der Fünftangeklagte, der als Fuhrparkchef agierende bulgarisch-libanesische Staatsbürger Saleh Kassim H., habe Samsooryamal Lahoo zwar von der Spitze in Ungarn verdrängen und „alles an sich reißen“ wollen. Amin und Kairo seien aber nicht auf die Hilfe des 52-Jährigen angewiesen. Als die Schlepperfahrzeuge immer größer wurden, sei es „zur Tragödie“ gekommen, so der Hauptangeklagte.

Seit dem Juni des Vorjahres wird gegen mittlerweile 14 Personen - elf Bulgaren, zwei Afghanen sowie ein bulgarisch-libanesischer Staatsbürger - verhandelt. Im Falle einer Verurteilung drohen den vier Hauptangeklagten lebenslange Haftstrafen. Die anderen dürfen ebenfalls mit hohen Haftstrafen rechnen.

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