Direkte Demokratie

Worüber man in Österreich (nicht) abstimmen kann

Österreich
15.04.2018 06:00

Dürfen wir in Lokalen rauchen? Soll die EU mit Kanada ein Handelsabkommen haben? Wie will man den ORF finanzieren? Vom Rauchverbot über CETA bis zur Fernseh-, Radio- und Internetgebühr wird heiß diskutiert, ob und wobei das Volk direkt mitreden könnte.

1. Vorweg sei gesagt, dass bereits jetzt nicht alles von Regierung und Parlament zu entscheiden ist. Bei Gesamtänderungen der Verfassung oder wenn eine Mehrheit der Nationalratsabgeordneten es möchte, wird das Volk befragt. Oft wünschen die politisch Mächtigen das aber nicht. 

Doch hat das Volk in Abstimmungen das Atomkraftwerk Zwentendorf knapp verhindert und den Beitrittsvertrag Österreichs zur EU mit Zweidrittelmehrheit befürwortet. In der Schweiz waren jüngst gar über 70 Prozent für Rundfunkgebühren. Warum also nicht auf schweizerische Art zu fast jedem Thema nach ausreichend vielen Unterschriften eines Volksbegehrens eine verpflichtende Volksabstimmung machen?

2. Dafür sind ja Regierungs- und Oppositionsparteien gleichermaßen. Irgendwie. Der Schwachpunkt in der Argumentation von Sebastian Kurz, Heinz-Christian Strache & Co. ist, warum sie das erst ab 2022 planen. Warum wären Abstimmungen 2018 ein Problem? Genauso holprig begründet sind die geforderten 900.000 Unterstützer, obwohl der Kurz’schen Jungen ÖVP 500.000 und für Strache noch im Vorjahr 250.000 Unterschriften genügten. Ein Schelm würde denken, dass man mit der Macht eines Kanzlers und Vizekanzlers die Mitsprache des Volkes lieber schwieriger gestaltet. Oder uns nichts entscheiden lässt, wo die Koalition selbst uneinig ist. Umgekehrt ist auch die SPÖ unglaubwürdig: Solange ihr Parteichef im Kanzleramt saß, schätzte man die Direktdemokratie nicht. In der Opposition jetzt schon.

3. Wäre es da nicht toll, wenn wir Österreicher über absolut alles abstimmen? Nein. Es gibt Ausnahmen. In einer Demokratie ist naturgemäß die Frage verboten, ob Diktaturen besser wären. Ein Diktator kann ohne Wahl- und Abstimmungsrechte alle Andersdenkenden ins Gefängnis werfen oder umbringen lassen, wenn wir nicht seiner Meinung sind.

Auch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde in der UNO 1948 beschlossen, um hoffentlich auf ewig zu gelten. Sie sieht etwa vor, dass niemand vom Staat gefoltert oder gar getötet werden darf. Abstimmungen darüber, den Staatsorganen das Quälen und Hinrichten einzelner Bürger zu ermöglichen, verbieten sich von selbst. Es gilt als Errungenschaft der Zivilisation, die Abschaffung der Todesstrafe außer Streit zu stellen.

4. Gleich wichtig ist das Diskriminierungsverbot nach Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder politischer Überzeugung. Niemand darf schlechter behandelt werden, weil er aus Tschanigraben im Burgenland oder Afghanistan kommt, wasserstoffblond oder rothaarig ist, als lesbische Frau oder homosexueller Mann lebt, an einen oder keinen Gott glaubt und möglicherweise die „falsche“ Partei wählt.

Was das mit Volksabstimmungen zu tun hat? Alle genannten Gruppen sind Minderheiten, deren Rechte zu schützen sind. Mit anderen Worten: Menschen können nicht anderen Menschen mit Mehrheitsentscheid ihre Menschenrechte wegnehmen. Zwei einfache Beispiele dazu:

5. Wenn mehrere Burschenschafter widerlich rassistische und antisemitische Nazilieder singen, gehört das bestraft. Es wäre dennoch undemokratisch, wenn die Mehrheit von Nicht-Burschenschaftern per Volksentscheid allen (!) Burschenschaften die Vereinsfreiheit wegnimmt. Ebenso eine Bestrafung gebührt jedem, der zuwandert und kriminell ist. Falls aber 80 Prozent Nicht-Zuwanderer im Volk die legal hier lebenden 20 Prozent Zuwanderer dafür pauschal verurteilen, könnten analog beinahe viermal mehr Niederösterreicher mittels Abstimmung alle Kärntner aus dem Land werfen.

6. Keine Mehrheit der Welt darf die Europäische Menschenrechtskonvention missachten. Ausnahmen gelten freilich nicht für alle internationalen Verträge. CETA ist nur ein Wirtschaftsdeal. Darüber kann man abstimmen. Sorgsam zu überlegen wäre der Zeitpunkt, weil im Sinn verlässlicher Partnerschaften nicht jeder der 27 Mitgliedsstaaten im Nachhinein oder abwechselnd nach Belieben dafür oder dagegen sein kann.

Außerdem Hand aufs Herz: Der CETA-Vertrag ist seit 2014 im Internet frei zugänglich, wer hat ihn gelesen? Das zeigt die Bringschuld unseres Staates, Volksabstimmungen in Verbindung mit politischer Bildungsarbeit durchzuführen. Zugleich gibt es eine Holschuld der Bürger, sich zu informieren.

Eine üble Unterstellung wäre allerdings, dass die Entscheidungen des Volkes weniger vernünftig sind als jene der gewählten Abgeordneten. Wie viele dieser kennen sich mit CETA gut aus und folgen nicht bloß der Meinung ihrer Partei? Sich falsch oder dumm zu entscheiden, das kann sowohl dem Volk als auch den Politikern passieren.

Peter Filzmaier, Kronen Zeitung

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