„Charlie Hebdo“:

Vor 3 Jahren nahm der Terror in Europa seinen Lauf

Ausland
07.01.2018 08:00

Vor exakt drei Jahren haben die islamistischen Anschläge auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" in Paris die ganze Welt erschüttert. Dass sie nur der Auftakt für eine beispiellose Terrorserie in Europa waren, ahnte damals wohl noch niemand. Heute ist die Angst vor islamistischen Attacken gegenwärtiger denn je. "Der 7. Jänner 2015 hat uns in eine neue Welt katapultiert, die aus Polizisten und Waffen besteht, aus Durchgangsschleusen, gepanzerten Türen, aus Angst und Tod", beschrieb ein Journalist von "Charlie Hebdo" die aktuelle Situation.

Insgesamt zwölf Menschen starben, als die beiden Brüder Cherif und Said Kouachi am 7. Jänner 2015 kurz vor Mittag die Redaktionsräume von "Charlie Hebdo" stürmten und mit Kalaschnikows um sich schossen. Zu den Opfern zählten einige der bekanntesten Karikaturisten Frankreichs, wie Stephane Charbonnier, Jean Cabut, Philippe Honore oder Georges Wolinski. Nach zwei Tagen auf der Flucht wurden die beiden Täter, die sich zur Al-Kaida bekannten, in einer Druckerei nördlich von Paris von Sondereinsatzkräften erschossen.

17 Tote an drei Terrortagen im Jänner 2015
Die Brüder Kouachi standen in Kontakt zu Amedy Coulibaly, alle drei hatten sich vorwiegend in Frankreich und quasi unter den Augen des französischen Geheimdienstes radikalisiert. Coulibaly erschoss am Tag nach dem "Charlie Hebdo"-Attentat eine Polizistin im Süden von Paris und gab an, im Namen der Terrormiliz IS zu handeln. Wiederum einen Tag später nahm er Kunden eines koscheren Supermarktes als Geiseln - vier von ihnen tötete er, bevor die Polizei den Markt stürmte und Coulibaly erschoss. Insgesamt starben an den drei Terrortagen im Jänner 17 Menschen.

Mehr Überwachung als Antwort - doch der Terror in Europa ging weiter
Europäische und internationale Spitzenpolitiker reagierten mit Entsetzten, rund 50 von ihnen beteiligten sich wenige Tage nach den Anschlägen gemeinsam mit 1,5 Millionen Franzosen am "Republikanischen Marsch" durch das Zentrum von Paris. Neben Anerkennung für diese Geste der Solidarität sorgte die Teilnahme umstrittener Persönlichkeiten für Kritik: Der damalige türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu, Russlands Außenminister Sergej Lawrow, der gabunische Präsident Ali Bongo oder auch Ungarns Premier Viktor Orban gelten alle nicht unbedingt als Verteidiger der Meinungsfreiheit.

Vor allem aber war der "Republikanische Marsch" eine Vorschau auf das, was Frankreich in den folgenden Monaten erwarten sollte. Möglich war der gemeinsame Aufmarsch der Spitzenpolitiker gegen den Terror nur aufgrund massiver Sicherheitsmaßnahmen, die Paris an diesem Tag beinahe zum Stillstand kommen ließen. Kurze Zeit später brachte die französische Regierung eines der umfassendsten Geheimdienstgesetze Europas auf den Weg, das Lauschangriffe ohne Zustimmung eines Richters sowie ein Monitoring der gesamten Internetkommunikation erlaubt. Auch die höchste Terrorwarnstufe wurde ausgerufen.

Paris, Brüssel, Nizza
Verhindert hat das die verheerenden Anschläge vom 13. November des gleichen Jahres, als islamistische Extremisten beinahe gleichzeitig das Feuer auf mehrere Bars und Restaurants von Paris sowie im bekannten Konzertsaal "Bataclan" eröffneten, nicht. Die Attacke, bei der 130 Menschen starben, war in Belgien vorbereitet und von dort bzw. von Syrien aus koordiniert worden. Trotz eines unmittelbar nach der Attacke verhängten Ausnahmezustandes und Grenzkontrollen konnte der mutmaßliche Beteiligte Salah Abdeslam ungehindert entkommen und wurde erst nach monatelanger Fahndung im März 2016 in Brüssel festgenommen.

Wenige Tage später erreichte der Terror erstmals auch ein Nachbarland Frankreichs: Am 22. März 2016 sprengten sich Mitglieder desselben Netzwerkes, das auch für die November-Anschläge in Paris verantwortlich war, am Brüsseler Flughafen Zaventem und in einer Metrostation der belgischen Hauptstadt unweit des Europaviertels in die Luft. 32 Menschen starben. Ausgerechnet am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli 2016, bewahrheitete sich dann, was der damalige Präsident Francois Hollande seinen Landsleuten bereits zu Jahresbeginn prophezeit hatte. "Ich schulde Ihnen die Wahrheit", erklärte er damals. "Wir haben den Terrorismus noch nicht besiegt, die Bedrohung ist noch immer da, auf höchstem Niveau, wir vereiteln regelmäßig Attentate." Diesmal gelang das nicht: Mit einem Lastwagen raste ein Tunesier durch die Menge auf der Strandpromenade des mondänen Küstenortes Nizza und tötete dabei 86 Menschen. Zahlreiche weitere Attentate in Europa folgten.

Uniformierte Soldaten prägen mittlerweile das Stadtbild europäischer Metropolen
Der Angst vor dem Terror hat seither die europäischen Gesellschaften fest im Griff. In Brüssel und Paris prägen heute Polizisten und uniformierte Soldaten das Stadtbild. In Frankreich lief der Ausnahmezustand erst nach rund zwei Jahren mit Ende Oktober 2017 aus. Doch weil die Terrorgefahr nicht gebannt ist, hat das Parlament in Paris zentrale Notstandsregeln ins normale Recht übernommen. Der Frankreich-Experte Wolfgang Schmale kritisiert dieses neue Antiterrorgesetz: Es bedeute "eine Verschlechterung der Rechtslage in Frankreich". Konkret wies der deutsche Historiker auf die erweiterten Befugnisse für das Innenministerium und die Ausweitung der Kontrollzonen rund um Flughäfen, Bahnhöfe und an den Grenzen hin. Gleichzeitig sei die Bevölkerung aber auch dazu bereit, im Namen der Sicherheit Einschränkungen bei den Bürgerrechten hinzunehmen, so Schmale. Der Protest gegen das neue Gesetz sei gering.

Der Weg der präventiven Maßnahmen, um gegen Gefährder vorzugehen, sei "wahrscheinlich unausweichlich, aber die Grundrechte sind das Wichtigste und Heiligste. Absolute Sicherheit ist nicht möglich", sagt Schmale. Außerdem könnten die Maßnahmen sogar "kontraproduktiv" sein, denn es bestehe dabei die Gefahr einer Verstärkung der "Ghettoisierung", wenn man "immer dieselben Personenkreise" als Gefährder ins Visier nehme. "Das perpetuiert sich und produziert wahrscheinlich neuen Extremismus", warnt der Experte.

"Der 7. Jänner 2015 hat uns in eine neue Welt katapultiert"
Zum Jahrestag des Anschlags auf die "Charlie Hebdo"-Redaktion schildern die Journalisten und Zeichner ihr Leben danach in einer am Mittwoch veröffentlichten Gedenkausgabe, bei der den Lesern das Lachen im Hals stecken bleibt. "Der 7. Jänner 2015 hat uns in eine neue Welt katapultiert, die aus Polizisten und Waffen besteht, aus Durchgangsschleusen, gepanzerten Türen, aus Angst und Tod" - so beschreibt es Fabrice Nicolino, der bei dem Anschlag schwer verletzt wurde. Zu den Überlebenden zählt auch Laurent Sourisseau alias Riss, heute Chefredakteur von "Charlie Hebdo", der während der Attacke der beiden Islamisten von einer Kugel getroffen wurde und sich tot stellte. Er hat das bitterböse Titelbild der Gedenkausgabe gezeichnet: Ein Mitarbeiter der Zeitung öffnet das Guckloch einer Panzertür und sagt - frei übersetzt - "Eine Spende für den Islamischen Staat? Wir haben schon gezahlt."

"Charlie Hebdo"-Redakteure: Kein Schritt ohne bewaffnete Polizeieskorte
Dafür gibt es in den sozialen Netzwerken viel Lob: "Hervorragend, diese Selbstironie", schreibt ein französischer Facebook-Nutzer. Eine Frau bekennt: "Ich bin noch immer Charlie" - in Anspielung auf die weltweite Solidaritätskampagne nach dem Anschlag 2015 unter dem Motto "Je suis Charlie" (Ich bin Charlie), die der Zeitung viele Spenden und einen Rekordumsatz von mehr als 60 Millionen Euro brachte. Für ihren schonungslosen Humor bezahlen die Zeichner und Journalisten bis heute: Sie arbeiten an einem geheimen Ort in Paris, der besser gesichert ist als manche Bank - mit Panzertüren, Panikraum und privatem Sicherheitsdienst. Chefredakteur Riss und andere führende Redaktionsmitglieder können keinen Schritt ohne eine schwer bewaffnete Polizeieskorte machen. Und noch immer sind Drohungen Alltag, vor allem im Internet.

"Wie viel kostet die Pressefreiheit?", fragt Riss in seinem Leitartikel und gibt gleich die Antwort: Bis zu 1,5 Millionen Euro jährlich müsse die Zeitung für den Schutz ihrer Redaktion und den privaten Sicherheitsdienst aufbringen. Denn der Staat stellt nur Polizisten für einige wenige Mitarbeiter ab, die als besonders bedroht gelten. Die Gedenkausgabe ist daher auch ein Appell an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den Schutz für die gesamte Redaktion auf Staatskosten zu gewährleisten. Und an die Leser, "Charlie Hebdo" und die Pressefreiheit weiterhin zu verteidigen. "Wir lachen, wir lachen weiter, aber wir brauchen Unterstützung", schreibt Nicolino.

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